Trouillot: Die Produktion von Geschichte
Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung
Prof. Dr. Christoph A. Rass
[IMIS] [SFB1604] [HistOS]
Michel-Rolph Trouillots Theorie der Geschichtsproduktion: Macht und Schweigen
Trouillot, Michel-Rolph (1995): Silencing the Past. Power and the Production of History.
Boston: Beacon Press.
Einführung
Michel-Rolph Trouillots Werk "Silencing the Past: Power and the Production of History" (1995) hat die Geschichtswissenschaft nachhaltig geprägt. Seine theoretischen Überlegungen zur Produktion von Geschichte und zur Rolle von Macht in diesem Prozess bilden eine wichtige Grundlage für kritische historische Forschung und eine Grundlage unserer geschichtswissenschaftlichen Arbeit an der Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung.
Trouillot, ein haitianisch-amerikanischer Anthropologe und Historiker, entwickelte seine Theorie aus einer postkolonialen Perspektive heraus und hinterfragte dabei grundlegend, wie Geschichte geschrieben wird und wessen Geschichten erzählt werden.
Zentrale Konzepte
Die doppelte Bedeutung von "Geschichte"
Trouillot weist auf die fundamentale Ambiguität des Begriffs "Geschichte" hin, der sowohl den historischen Prozess selbst ("was geschah") als auch die Erzählung über diesen Prozess ("was gesagt wird, dass geschah") bezeichnet. Diese Doppeldeutigkeit ist kein sprachlicher Zufall, sondern verweist auf die untrennbare Verbindung zwischen historischem Geschehen und historischer Erzählung. Die Grenze zwischen beiden ist fließend und kontextabhängig.
Jenseits von Positivismus und Konstruktivismus
Trouillot positioniert sich kritisch gegenüber zwei dominanten geschichtstheoretischen Strömungen:
-
Positivismus: Die Vorstellung, dass es eine objektive historische Wahrheit gibt, die von Historiker*innen lediglich entdeckt werden muss. Diese Position ignoriert die Rolle von Macht in der Geschichtsproduktion.
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Konstruktivismus: Die Ansicht, dass Geschichte reine Fiktion sei und beliebig konstruiert werden könne. Diese Position verkennt die materielle Realität historischer Prozesse.
Trouillot schlägt einen dritten Weg vor, der die Materialität historischer Prozesse anerkennt, gleichzeitig aber die Machtdynamiken in der Produktion historischer Narrative ernst nimmt.
Die vier Momente der Geschichtsproduktion
Das Herzstück von Trouillots Theorie bildet sein Modell der vier Momente, in denen Schweigen in die historische Produktion eintritt:
1. Die Produktion von Fakten (Making of Sources)
Bereits bei der Entstehung historischer Ereignisse werden bestimmte Aspekte aufgezeichnet, andere nicht. Nicht alle Ereignisse hinterlassen Spuren; manche Menschen und Gruppen haben größere Chancen, materielle oder schriftliche Zeugnisse zu hinterlassen als andere.
2. Die Produktion von Archiven (Making of Archives)
Bei der Archivierung wird eine zweite Auswahl getroffen. Nicht alle Quellen werden aufbewahrt, katalogisiert oder zugänglich gemacht. Archive sind keine neutralen Speicher, sondern Orte der Machtausübung.
3. Die Produktion von Narrativen (Making of Narratives)
Historiker*innen wählen aus den verfügbaren Quellen aus und konstruieren daraus Erzählungen. Auch hier spielen Machtverhältnisse eine Rolle: Wer hat Zugang zu Archiven? Welche Fragen werden gestellt? Welche Interpretationen setzen sich durch?
4. Die Produktion von Bedeutung (Making of History)
In der öffentlichen Geschichtskultur erhalten bestimmte Narrative Bedeutung, während andere marginalisiert werden. Dies geschieht durch Schulbücher, Museen, Denkmäler, Medien und öffentliche Debatten.
Macht und Geschichtsproduktion
Für Trouillot ist Macht nicht etwas, das von außen auf die Geschichte einwirkt, sondern konstitutiv für die Geschichtsproduktion selbst. Macht durchdringt alle vier Momente und bestimmt:
- Wessen Erfahrungen aufgezeichnet werden
- Welche Dokumente archiviert werden
- Wer Zugang zu Archiven erhält
- Wer Geschichten erzählen kann und wem zugehört wird
- Welche Erzählungen gesellschaftliche Bedeutung erlangen
Die Akteure der Geschichte
Trouillot unterscheidet drei Kapazitäten, in denen Menschen an Geschichte teilnehmen:
- Als Agenten: Menschen in strukturellen Positionen
- Als Akteure: Menschen in spezifischen historischen Kontexten
- Als Subjekte: Menschen, die sich ihrer eigenen Stimme bewusst sind
Diese Unterscheidung zeigt, dass Menschen gleichzeitig Geschichte machen und über Geschichte erzählen – sie sind sowohl Akteure als auch Erzähler*innen.
Geschichtsproduktion jenseits der Universität
Ein wichtiger Aspekt von Trouillots Theorie ist die Erkenntnis, dass Geschichte nicht nur in akademischen Kontexten produziert wird. Geschichtsproduktion findet zum Beispiel auch statt in:
- Schulen und Bildungseinrichtungen
- Museen und Gedenkstätten sowie Denkmäler
- Medien (Film, Fernsehen, Literatur, Internet)
- Öffentlichen Feiern und Ritualen
- Familiären Erzählungen
- Politischen Debatten
Bedeutung für die historische Forschung
Trouillots Ansatz fordert Historiker*innen auf:
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Schweigen zu identifizieren: Welche Geschichten werden nicht erzählt? Wessen Perspektiven fehlen?
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Machtstrukturen zu analysieren: Wie beeinflussen Machtverhältnisse die Produktion von Geschichte?
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Alternative Narrative zu entwickeln: Wie können marginalisierte Stimmen hörbar gemacht werden?
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Die eigene Position zu reflektieren: Welche Rolle spielen wir selbst in der Geschichtsproduktion?
Erkenntnisse
- Trouillots Theorie bietet ein nuanciertes Verständnis davon, wie Geschichte "funktioniert" statt zu definieren, was Geschichte "ist". Sie sensibilisiert uns für die Machtdynamiken, die bestimmen, welche Vergangenheiten erinnert und welche zum Schweigen gebracht werden.
- Für Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft bedeutet dies, stets kritisch zu hinterfragen, wessen Geschichten wir erzählen (oder rezipieren), welche Quellen wir nutzen und wie wir zur Reproduktion oder Überwindung von Schweigen als Teil der Produktion von Geschichte beitragen.
- Diese theoretischen Überlegungen sind besonders relevant für eine kritische Geschichtswissenschaft, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist und aktiv daran arbeitet, marginalisierte Perspektiven sichtbar zu machen und etablierte Narrative zu hinterfragen.