Konferenz zu "Verlustgeschichten. Verlieren und Verlorensein als kulturelle Praktiken im Mittelalter" in Wolfenbüttel

Die Tagung zielt darauf, das Phänomen des Verlusts sowie damit verbundenen Praktiken und Diskurse in ihrer historischen Dimension fassbar zu machen. 

Verluste scheinen allgegenwärtig und werden auf zahlreichen Feldern konstatiert: Das Vertrauen in die Demokratie schwindet, ebenso wie die weltweite Biodiversität; kollektiv wie individuell wirksam sind Sorgen um den Verlust des Arbeitsplatzes, die öffentliche Sicherheit und die menschliche Handlungsmacht angesichts des Klimawandels.
Verlust ist jedoch mehr als einfach nur das Verschwinden von Phänomenen, Dingen oder Gewissheiten – Verlust ist ein Verschwinden, das bemerkt und (zumeist negativ) bewertet wird und damit oft auch emotional wirksam ist. Verlusterfahrungen lassen sich so-mit klar von ‚Vergessen‘ abgrenzen, weil das Ver(lorenge)gangene als Verlust in der Gegenwart wirksam bleibt und potentiell relevant für die Zukunft ist.
Der Soziologe Andreas Reckwitz hat Verluste jüngst als „Grundproblem der Moderne“ beschrieben. Das Fortschrittsnarrativ der Moderne bedinge einerseits, dass verschwindende Phänomene oder Dinge eher nicht als negativer Verlust aufgefasst werden, weil Vergangenes als überholt gewertet werde und durch das Neue, Bessere überwunden werden soll; andererseits potenziere das Fortschrittsmodell durch Rationalisierung, Säkularisierung und Beschleunigung aber auch Verlusterfahrungen. Der Verlust einer positiven Zukunftserwartung in der Spätmoderne potenziere nun sowohl Verlusterfahrungen als auch Verlustängste, so Reckwitz. In bzw. nach der Postmoderne seien sicher geglaubte Gewissheiten, die das Verhältnis von Individuen und Gesellschaften zu Wahrheit und Wirklichkeit definierten, verloren gegangen und ihr Fehlen führe zu verschiedensten Reaktionen zwischen Resignation und Gewalttätigkeit.
Aus historischer Sicht ist hier zu intervenieren: zwar mag die Spätmoderne ihre spezielle Beziehung zu Verlusten haben, unbestreitbar ist aber auch, dass Verlust eine menschliche Grunderfahrung ist, die in allen Epochen beobachtbar ist. Der Umgang mit Verlusten, ihre Bewertung und Bewältigung ist dabei immer auch zeitlichem und kulturellem Wandel unterworfen, den es je spezifisch zu analysieren und zu historisieren gilt.
Die soziologischen Thesen von Andreas Reckwitz zu historisieren bedeutet auch, die Herausforderungen der Moderne nicht schon im Vorfeld als einzigartig und überwältigend zu verstehen, sondern ihnen historische Tiefenschärfe zu verleihen. Verlusterfahrungen und -ängste mögen eng mit dem Ende des modernen Fortschrittsdenkens verbunden sein, sind aber kein neues Phänomen für menschliche Gesellschaften.
Die Tagung zielt darauf, das bisher v.a. soziologisch konkreter gefasste Konzept des ‚Verlusts‘ auch für die geisteswissenschaftliche Forschung analytisch fruchtbar zu machen.

Das Programm der Tagung finden Sie  hier.