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Pressemeldung

Nr. 39 / 2020

10. Februar 2020 : Zur Aushandlung von Migration nach dem Zweiten Weltkrieg – Drei neue Forschungsprojekte zu „Migrationsgesellschaften“ an der Universität Osnabrück

Zum Jahreswechsel haben am Forschungszentrum Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) bzw. am Historischen Seminar (Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung) der Universität Osnabrück drei Forschungsprojekte zur Aushandlung von Mobilität und Migration nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Die thematisch miteinander verschränkten Projekte behandeln zentrale Fragen der Profillinie „Migrationsgesellschaften“. Dies ist eine von sechs Profillinien, mit denen die Universität ihr wissenschaftliches Profil schärfen will.

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© Elena Scholz/ Universität Osnabrück

Prof. Dr. Christoph Rass (l.) und die Mitarbeitenden der Projekte widmen sich den Migrationsgesellschaften aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Nach der Befreiung durch die Alliierten 1945 befanden sich in Deutschland und ganz Europa Millionen Menschen fernab ihrer Herkunftskontexte; darunter Verfolgte des Naziregimes und Überlebende der Shoah sowie Opfer von Deportation und Verschleppung. Die Alliierten sahen sich mit einer humanitären Katastrophe ungeahnter Ausmaße konfrontiert und übernahmen die Verantwortung für die Opfer dieser Gewaltmigration. Angesichts der damals sogenannten „europäischen Flüchtlingskrise“ wurden in den Nachkriegsjahren Definitionen und Politiken entwickelt, die noch heute die historische Grundlage für den Umgang mit Geflüchteten und den Folgen von Gewaltmigration bilden.

Zunächst wurde ausgehandelt, wer überhaupt „Flüchtling“ oder „Displaced Person“ (DP) sei; Definitionen, die sich normativ und in ihren praktischen Auslegungen immer wieder veränderten. Ebenso wurden Programme entwickelt, wie mit Flüchtlingen und DPs zu verfahren sei: Repatriierung, Neuansiedlungen (resettlement) oder „Integration“ vor Ort.

Unter der Regie der Alliierten wurde zunächst ein umfangreiches Repatriierungsprogramm durchgeführt, auch unter Zwang. Angesichts der Einsicht, dass man beispielsweise Osteuropäerinnen und -europäern, die Angst vor der Roten Armee äußerten, ebenso Unrecht tat, wie Spanierinnen und Spaniern, die nach einer Repatriierung Haft im Franco-Spanien fürchten mussten, gründeten die Vereinten Nationen 1946 die International Refugee Organisation (IRO), deren Aufgabe es sein sollte, zwischen 1946/47 und 1951 ein resettlement für rund eine Million Menschen zu organisieren. DPs und Flüchtlinge, die nach dem Ende dieses Programms in Deutschland verblieben, mussten unter dem neuen Label „Heimatlose Ausländer“ schließlich in die bundesdeutsche Gesellschaft „integriert“ werden.

Die konkreten Aushandlungsprozesse dieser Mobilitätsoptionen werden an der Universität Osnabrück nun in drei miteinander korrespondierenden Projekten erforscht. Dr. Sebastian Huhn untersucht in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt die Aushandlungsprozesse des resettlements europäischer DPs und Flüchtlinge in Venezuela. „Aushandlungen fanden hier auf einer politischen Ebene zunächst mit Venezuela statt. Vor allem mussten DPs und Flüchtlinge aber in den europäischen Büros der IRO über die Möglichkeit verhandeln, Europa Richtung Lateinamerika verlassen zu können. Die Agency der DPs aber auch aller anderer beteiligten Akteure spielte dabei eine zentrale Rolle. In Venezuela mussten sie schließlich mit der dortigen Gesellschaft über Teilhabe und Anerkennung verhandeln“, so Dr. Huhn.

Im zweiten Projekt nimmt Lukas Hennies – gefördert durch ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung – die Elegibility Officers der IRO im Aushandlungsprozess der Nachkriegsmigration genauer in den Blick. Diese Fallbearbeiterinnen – und bearbeiter trafen für die IRO Millionen Entscheidungen über die Anerkennung oder Ablehnung der Hilfsgesuche der sogenannten DPs bzw. Flüchtlinge und prägten so die konkrete Migrationspolitik. „Die konkreten Entscheidungen hingen nicht nur vom Mandat der Organisationen ab, sondern von den Handlungsspielräumen der Personen vor Ort mit ihren persönlichen Einstellungen, politischen und ethischen Haltungen, Ressentiments aber auch ihrer Lesart der institutionellen Rahmungen und ihrer Aufgabe oder wachsender Erfahrung und Routine“, berichtet Lukas Hennies.

Die „Integration“ der sogenannten „Heimatlosen Ausländer“ – derjenigen DPs, die schließlich in Deutschland verblieben - wird in einem dritten Projekt (Prof. Dr. Christoph Rass, Dr. Sebastian Huhn, Linda Ennen) untersucht, das im Rahmen des Programms Pro*Niedersachsen vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert wird. „Im Zentrum dieses Vorhabens steht die Kategorisierung von Menschen als „Heimatlosen Ausländer“ in der Bundesrepublik ab 1951 und die Aushandlung ihrer Niederlassungsoptionen. Dabei wird vor allem die Rolle kommunaler Behörden bei der Aufnahme und „Integration“ der „Heimatlosen Ausländer“ beforscht, um aus diesem Blickwinkel die Bedingungen und Perspektive der Aushandlung von Teilhabe und Anerkennung zu beobachten“, erläutert Prof. Rass.

Die drei Projekte bilden eine Arbeitsgruppe, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln Fragen widmet, die nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso akut waren, wie sie es heute sind. Diskussionen und Programme zu resettlement, Repatriierung und „Integration“ spielen in der Gegenwart angesichts umfangreicher gewaltbedingter Migration und Flucht nach wie vor eine große Rolle; in Europa ebenso, wie beispielsweise in den USA und Lateinamerika. Wichtiger denn je ist daher die Analyse historischer Präzedenzfälle der Aushandlungen und der Folgeprozesse von Mobilität zwischen Geflüchteten, internationalen Organisationen, Staaten und lokalen Behörden, die wesentlich die Art und Weise geprägt haben, in der wir heute mit den Folgen von Massengewaltmigration umgehen.

Weitere Informationen für die Redaktionen:
Prof. Dr. Christoph A. Rass, Universität Osnabrück
Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS)
Tel.: +49 541 969 4912
chrass@uni-osnabrueck.de