Projektbeschreibung
Projektziel
Unbestimmtheit ist in der Sprache keine Ausnahme, sondern findet sich auf allen sprachlichen Ebenen. Sie tritt nicht nur häufig auf, sondern stellt einen zentralen Mechanismus im grammatischen Wandel sowie ein frequentes Phänomen in der empirisch basierten grammatischen Klassifikation dar. Theoretisch fundierte und empirisch belastbare Analysen grammatischer Unbestimmtheitsphänomene sind Desiderate der empirischen Grammatikforschung: Obwohl Unbestimmtheitsphänomene ein zentrales Charakteristikum für grammatischen Wandel und die Klassifikation grammatischer Einheiten darstellen, nutzen einzelne Arbeiten weder einheitliche theoretische Konzepte für Phänomene wie Ambiguität, Polysemie und Vagheit, noch ist dort eine phänomenübergreifende empirische Operationalisierung von Unbestimmtheitsphänomenen etabliert. Anhand von Ansätzen insbesondere aus der theoretischen Semantik lassen sich diese Phänomene jedoch durchaus klassifizieren. Eine solche theoretisch fundierte Klassifikation wird im Projekt in die Konzeption und Methodik der empirischen Grammatikforschung übertragen.
Ziel des Projekts ist die Entwicklung und Etablierung eines theoretisch fundierten Konzepts zur empirischen Analyse von Unbestimmtheit in der Grammatik. Dabei stützt es sich auf den Ansatz der Kanonischen Typologie (Brown et al. 2013), der für die empirische Operationalisierung theoretischer grammatischer Konzepte bereits etabliert ist.
Im Projekt werden anhand quantitativer Analysen grammatischer Unbestimmtheitsphänomene die in der Semantik – insbesondere bei Pinkal (1985) – theoretisch fundierten Klassifikationskriterien quantitativ überprüft und geschärft.
Die empirische Grundlage des Projekts und zugleich erste Anwendungsbeispiele des Konzepts bilden unterschiedliche Fallstudien zu Frequenz, Form und Auflösung grammatischer Unbestimmtheit. Ausgehend davon wird im Rahmen der Kanonischen Typologie ein Klassifikationskonzept entwickelt, das den Anspruch hat, für alle grammatischen Wandel- und Klassifikationsphänomene fruchtbar gemacht werden zu können.
Fragestellung
Der Ansatz des Projekts lässt sich anhand der Beispiele (1) und (2) illustrieren, die sowohl ambige als auch vage Strukturen enthalten und sich im Bereich der Grammatik ansiedeln lassen:
(1) Er hat erzählt, dass er viel Staub gewischt hat.
(2) Sie ist am Wochenende viel gefahren.
Ambiguität besteht nach der Klassifikation der lexikalischen Semantik (vgl. z. B. Pinkal 1985) in Ausdrücken, in denen zwei separate Lesarten auftreten, die in irgendeiner Form (z. B. durch den Kontext) disambiguiert werden müssen, da keine Möglichkeit besteht, dass beide Lesarten parallel aufgerufen werden. Gibt es eine konventionalisierte Basislesart, die i. d. R. im Vordergrund steht, auch wenn beide Lesarten theoretisch möglich sind, spricht man von Polysemie, einer abgeschwächten Form der Ambiguität. Bezüglich der Wortart kann viel in (1) sowohl als Determinierer des Nomens Staub klassifiziert werden [viel Staub]NP als auch als Adverb, das kein Teil der NP ist [viel]ADV[Staub]NP. Auf morphosyntaktischer Ebene kann man die Struktur daher als ambig klassifizieren; unterschiedliche Lesarten lassen unterschiedliche Satzgliedanalysen zu, die mit unterschiedlichen Wortartenklassifikationen (Determinierer oder Adverb) einhergehen. Eine allgemeine Lesart, in der beide Klassifikationen parallel möglich sind, existiert nicht. In der Regel kann aus dem Kontext erschossen werden, ob viel als Adverb oder als Determinierer klassifiziert werden muss. Diese strukturelle Ambiguität führt auf funktionaler Ebene zu Ambiguität zwischen nominaler und verbaler Quantifikation. Viel kann sowohl nominal die Menge des Staubs als auch verbal die Tätigkeit des Wischens quantifizieren.
Zusätzlich zeigt sich in (1) und (2) auf Lexemebene die Vagheit von viel. Bei Vagheit existieren nach Pinkal (1985) ebenfalls mehrere Lesarten. Als Adverb lässt viel neben iterativen (‚häufig‘) und durativen (‚lange‘) Lesarten abhängig vom Kontext in (2) auch lokative (‚weit‘) Lesarten zu. Diese Lesarten stehen in vagen Strukturen miteinander in Zusammenhang. Vage Lesarten lassen sich nicht unbedingt klar voneinander abgrenzen und können in einer verallgemeinerten Lesart durchaus kombiniert werden, ohne dass die Notwendigkeit besteht, sie zu präzisieren oder zu disambiguieren (vgl. z. B. Lakoff 1970; Pinkal 1985). Der Ausdruck viel gefahren besagt zunächst nur, dass die Aktivität des Fahrens in einem hohen Maße ausgeführt wurde. Dafür, wie dieses hohe Maß zustande gekommen ist, gibt es dabei mehrere Möglichkeiten: Sie kann fünfzehnmal gefahren sein, sie kann 2.000 km gefahren sein oder sie kann 36 Stunden lang gefahren sein. Möglicherweise wird diese Ungenauigkeit durch den Kontext aufgehoben, oft ist das aber nicht der Fall.
Das Projekt setzt sich mit der Frage auseinander, wie eben solche Unbestimmtheitsphänomene in der Grammatik für empirische Analysen operationalisiert und auf Grundlage empirischer Daten theoretisch spezifiziert werden können. Dazu greift es, soweit möglich, auf vorhandene Ressourcen und Ansätze aus der Semantik und der empirischen Grammatikforschung zurück und entwickelt ein Konzept im theoretischen Rahmen der Kanonischen Typologie, mit dem die theoretischen Annahmen zu grammatischer Unbestimmtheit empirisch überprüft werden können.
Als exemplarisches Untersuchungsfeld nutzt das Projekt unterschiedliche empirische Daten zu indefiniten Quantifizierern wie viel, wenig und mehr und greift damit die Frage auf, welche Formen von Unbestimmtheit die Entwicklung und Klassifikation dieser Klasse in welcher Weise prägen.
Literatur
Brown, Dunstan, Marina Chumakina und Greville G. Corbett (2013). Canonical Morphology and Syntax. Oxford: Oxford University Press.
Lakoff, George (1970). A Note on Vagueness and Ambiguity. In: Linguistic Inquiry 1(3): 357–359.
Pinkal, Manfred (1989). Imprecise concepts and quantification. In: Semantics and Contextual Expressions. Hrsg. von Renate Bartsch, Johan van Benthem & P. van Emde Boas. Berlin, New York: de Gruyter (Groningen-Amsterdam Studies in Semantics Ser; 11): 221–266.
Pinkal, Manfred (1991). Vagheit und Ambiguität. In: Semantik. Hrsg. von Arnim von Stechow & Dieter Wunderlich. Berlin, New York: de Gruyter: 250–269.