Es beginnt in den meisten Fällen mit dem Überfliegen eines Lexikonartikels zu einer Person. Das Kapitel „Biographie“ liest sich deutlich spannender als die eigene und ich stelle mir in solchen Fällen unweigerlich die Frage nach dem Wie: „Wie hat die Person all diese Dinge in ihrem Leben unterbringen können?” So auch, als mir Galla Placidia zum ersten Mal in einem Studienbuch über den Weg stolperte. Sie führte ein ausgefülltes Leben, das am 23. Oktober 425 in der Erlangung der wahrscheinlich mächtigsten Position im Weströmischen Reich gipfelte.
Begeben wir uns ins Jahr 410: Mit der Plünderung Roms machten die Westgoten unter ihrem Anführer Alarich nicht nur das scheinbar Unmögliche möglich, sondern nahmen auch römische Aristokraten in Gefangenschaft. Unter ihnen: Galla Placidia, Tochter des ehemals über Westrom herrschenden Theodosius I. und Halbschwester des seit 395 amtierenden Honorius, während dessen Herrschaft Alarich Rom einnahm. Die zu diesem Zeitpunkt knapp zwanzig Jahre alte Galla Placidia war 412 als Geisel Teil der Verhandlungen zwischen Honorius und Athaulf, der dem 410 verstorbenen Alarich als Anführer der Goten folgte. Obwohl sich beide Parteien auf einen Deal einigten, weigerte sich Athaulf, die Kaiserschwester wieder in römische Hände zu übergeben. Vielmehr machte er sie durch die Entscheidung, Galla 414 zu heiraten, zur Königin der Goten. Es folgte eine Tragödie: Der gemeinsame Sohn Theodosius starb bereits im Säuglingsalter und Athaulf wurde 415 ermordet.
Diese Zäsur bedeutete nicht nur das Ende des Lebens als Gotenkönigin, sie ermöglichte vor allem ihre Rückkehr nach Rom. Ein Abkommen zwischen den Goten und Rom sah sie 416 als Tauschobjekt vor. Sofort nutzte Honorius seine Schwester als machtpolitisches Mittel und verheiratete sie ein Jahr später gegen ihren Willen mit seinem Heermeister und Konsul Constantius. Eines der beiden gemeinsamen Kinder war der spätere Kaiser Valentinian III.
Honorius erhob Constantius 421 mit Nachdruck vonseiten des Heermeisters zum Mitherrscher - folglich stieg Galla zur Augusta auf. Constantius erlag allerdings im selben Jahr einer schweren Krankheit und hinterließ somit ein prekäres Machtvakuum an der Spitze des Weströmischen Reichs. Ein Vakuum, um das ab 421 zwei Gruppierungen kämpften. Auf der einen Seite die Unterstützer von Kaiser Honorius, auf der anderen die der Galla Placidia. Für beide stand eine Frage im Mittelpunkt ihrer Ränkespiele: Wer wird der Nachfolger des kinderlosen Kaisers? Galla verlor, indem ihr der Augusta-Titel entzogen wurde. Sie sah sich 423 gezwungen, in Konstantinopel, der Hauptstadt des Oströmischen Reiches, bei ihrem Neffen Kaiser Theodosius II. Zuflucht zu suchen.
Allerdings überschlugen sich nun erneut die Ereignisse: Honorius selbst starb 423, und als Antwort auf eine Usurpation wird Gallas Sohn Valentinian im Oktober 424 zunächst Caesar. Nur ein Jahr später, am 23. Oktober 425, war der Thronfolger aber bereits Kaiser. Damit ging allerdings ein Problem einher: Ein sechs Jahre alter Kaiser verfügt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch nicht über die notwendigen Fähigkeiten, ein ganzes Reich allein zu regieren. Es braucht Geschäftsführer/Regenten, die an seiner Stelle agieren und so den Kaiser als kompetent agierende Machtperson bestätigen, bis dieser selbst regierungsfähig ist.
In diese Rolle schlüpfte Galla Placidia und übte diese bis 437 aus. Eine Zeit, die weiterhin von Machtkämpfen geprägt war. Eine Zeit, in der aus einer Beherrschten eine Herrschende wurde. Sie bemühte sich um eine Verbesserung der Gesetzgebung, beteiligte sich als orthodoxe Christin mehrfach an kirchenpolitischen Debatten und vollbrachte tatsächlich das Kunststück, innerhalb eines unsicheren politischen Klimas, ihren Sohn nicht zum Opfer einer Intrige werden zu lassen. Galla starb 450, ihr Sohn herrschte insgesamt 30 Jahre, bis er einem Attentat zum Opfer fiel.
Also, wie können wir das Wie beantworten: Vermutlich durch das Pech, ungewollt zum Spielball politischer Dynamiken zu werden, den eigenen Überlebenswillen und ein Gespür für Machtpolitik. Doch stellt sich am Ende unseres biografischen Exkurses nicht noch eine andere W-Frage? Wieso ist es notwendig, in der Wissenschaft Frauen wie Galla Placidia eine Stimme zu geben? Es wäre schlichtweg unmöglich, ohne diesen Ansatz die männerdominierte Politikgeschichte unserer Lieblingsepoche zu verstehen. Wie gut, dass genau dieses Thema hier in Osnabrück ein zentraler Forschungsaspekt ist.
Alexander Pracht
Bild: KI-generiert