Thema des Monats Oktober 2023: Agrippina maior – Opfer und Akteurin im Streit um den Kaiserthron

Am 18. Oktober 33 ist Agrippina die Ältere, Enkelin von Kaiser Augustus und Mutter von Kaiser Caligula, infolge einer Verweigerung der Nahrungsaufnahme in ihrem Exil auf der Insel Pandateria verstorben. Sie fiel den zum Teil rücksichtslosen Intrigen zum Opfer, die die Geschichte der julisch-claudischen Dynastie prägten und bereits im letzten Monat Thema waren. Agrippina erblickte 14 v. Chr. das Licht der Welt als Tochter von Marcus Agrippa, der rechten Hand des ersten Kaisers Augustus. Ihre Mutter war Julia, die als einziges leibliches Kind von Augustus eine besondere Stellung innehatte. In Ermangelung eines Sohnes musste ihr Vater sich anderweitig nach potentiellen Nachfolgern für seine führende Position in Rom umsehen und fand sie im erweiterten Familienkreis. Er verheiratete seine Tochter – wohl in der Hoffnung auf männliche Enkel – an seinen Neffen Marcellus, der jedoch nach nur 2 Ehejahren kinderlos verstarb.

Die zweite Ehe Julias mit Agrippa brachte dann die ersehnten männlichen Erben hervor. Agrippinas zwei ältere Brüder wurden noch vor der Geburt der kleinen Schwester von Augustus adoptiert und damit als Anwärter auf dessen Nachfolge designiert. Ihren Vater verloren die Geschwister schon im Kleinkindalter, ihrer Mutter Julia wurde womöglich ihr Kindersegen zum Verhängnis. Dadurch gewissermaßen entbehrlich geworden, wurde sie aus Rom verbannt, als Agrippina 12 Jahre alt war. Ihr wurde vorgeworfen, während ihrer dritten Ehe mit Augustus‘ Stiefsohn, dem späterem Kaiser Tiberius, Ehebruch begangen zu haben. Heute ist man sich uneinig darüber, ob unsittliches Verhalten ihrerseits die Reputation des Herrscherhauses sowie insbesondere die Legitimität ihrer Söhne und vorgesehenen Nachfolger des Kaisers in Frage stellte oder sie an einer Verschwörung gegen ihren Vater beteiligt war, der Verstöße gegen seine Ehegesetze als Vorwand für eine Verbannung gebrauchte.

In jungen Jahren bereits mit dem Verlust ihrer Eltern belastet, verlor Agrippina als Teenagerin auch noch ihre beiden älteren Brüder. Dies bedeutete wohl nicht nur für sie persönlich einen weiteren Schicksalsschlag, sondern machte auch die Planungen für die Nachfolge des Augustus zunichte. Dieser adoptierte nun Agrippinas jüngeren Bruder, seinen einzigen verbleibenden männlichen Nachkommen, sowie seinen Stiefsohn Tiberius, der zugleich Stiefvater Agrippinas war und seinen eigenen Neffen Germanicus adoptieren musste. Mit diesem wurde Agrippina verheiratet. Als auch ihr kleiner Bruder und ihre kleine Schwester wenig später verbannt wurden, verblieb sie als einziger Nachkomme des Kaisers, der nicht gestorben oder in Ungnade gefallen war. Es ist schwer vorstellbar, wie sich Agrippina zu dieser Zeit gefühlt haben muss. Einerseits konnten die zahlreichen Intrigen und Todesfälle innerhalb ihrer Familie nicht spurlos an ihr vorübergegangen sein. Andererseits war ihr Ehemann Germanicus nach Tiberius die Nummer 2 in der Thronfolge und sie konnte darauf hoffen, dass ihre Kinder eines Tages an der Spitze des römischen Staates stehen würden – dank der Legitimität, die ihre Abstammung von Augustus ihnen verlieh. Vielleicht ahnte sie damals aber bereits, dass sie und ihre Kinder gerade deshalb zur Zielscheibe weiterer Intrigen werden könnten. Wir sprechen heute von Augustus als erstem Kaiser. Für seine Zeitgenossen war es aber keineswegs klar, dass ihm über Jahrhunderte hinweg weitere Kaiser folgen würden. Rom hatte eine von langen Bürgerkriegen beherrschte Zeit hinter sich und es stand überhaupt nicht fest, wer und in welcher Konstellation nach Augustus den Staat lenken würde. Das musste Begehrlichkeiten wecken.

Agrippina galt als tugendhafte Ehefrau und Mutter und gebar ihrem Mann insgesamt 9 Kinder. Die Verbannung ihrer Mutter aufgrund des Vorwurfs der Sittenlosigkeit hat sie sicherlich fortlaufend daran erinnert, wie wichtig es ist, zumindest nach außen dem Ideal einer römischen Matrone zu entsprechen. Sie begleitete ihren Mann sogar auf einen Feldzug nach Germanien. Das Ehepaar erfreute sich großer Beliebtheit bei Volk und Armee. Nicht zuletzt deshalb stellten sie eine Bedrohung für die Stellung des Tiberius dar, der 14 n. Chr. Augustus' Nachfolge angetreten hatte. Germanicus war eine ernstzunehmende Alternative für die Position des Kaisers und Tiberius musste befürchten, von ihm verdrängt zu werden. Als Germanicus im Jahr 19 n. Chr. während einer Mission in Antiochia verstarb, lag die Vermutung nahe, dass Tiberius seinen Rivalen aus dem Weg geräumt hatte. Agrippina befand sich nun in einer schwierigen Situation. Einerseits hegte sie mit Sicherheit Verdächtigungen und Groll gegen Tiberius, andererseits durfte sie ihm nicht so sehr in die Queere kommen, dass er sie und ihre Kinder als untragbare Bedrohung empfindet. Sie einfach provisorisch aus dem Weg zu räumen, lag allerdings wohl auch nicht im Interesse des Tiberius. Er behandelte die beiden ältesten Söhne Agrippinas als seine Nachfolger und instrumentalisierte sie damit auch für seine eigene Legitimation als Nachfolger des Augustus. Im Jahr zuvor war sein leiblicher Sohn, Drusus der Jüngere, unter ungeklärten Umständen gestorben  (Thema des Monats September 2023).

Agrippina und ihre Kinder erfreuten sich nach wie vor großer Beliebtheit und hatten viele politische Unterstützer. Für ihren Untergang war nicht zuletzt der intrigante Prätorianerpräfekt Seian verantwortlich – möglicherweise, weil er selbst die Stellung als Tiberius' Nachfolger anstrebte. Er ging gegen Verbündete Agrippinas vor und machte bei Tiberius Stimmung gegen die Mutter der designierten Nachfolger Nero Caesar und Drusus Caesar, die er gegeneinander auszuspielen versuchte. Im Jahr 27 hatte sich die Lage so sehr zugespitzt, dass Tiberius Agrippina und ihren ältesten Sohn Nero unter bewachten Hausarrest stellen ließ. Zwei Jahre später warf man ihnen vor, sie hätten zu den am Rhein stationierten Legionen fliehen und mit deren Hilfe gegen Tiberius vorgehen wollen. Das bedeutete Hochverrat. Nero wurde deshalb zum Staatsfeind erklärt. Er und seine Mutter wurden in die Verbannung geschickt, aus der sie nicht lebend zurückkehrten. Von Agrippinas Söhnen überlebte nur Caligula die Herrschaft des Tiberius und wurde dessen Nachfolger.

Don Jansen