Ein Nachruf auf einen Politikwissenschaftler, der unserer Universität „nur“ bis zu seiner Promotion verbunden blieb, könnte ungewöhnlich wirken: Jürgen Treulieb war von 1974 bis 1980 wissenschaftlicher Assistent, promovierte 1980, lehrte dann wesentlich später noch einmal mehr als anderthalb Jahrzehnte an der Viadrina in Frankfurt/Oder. Doch in ebenfalls ungewöhnlicher Weise spiegeln sich in Treuliebs Person und Leben Facetten der Zeitgeschichte wie des turbulenten Gründungsprozesses der Universität Osnabrück.
Treulieb entstammte einer Bonner evangelischen Pfarrersfamilie. Als er in seiner Jugend beide Eltern durch schwere Erkrankungen verlor, gewann er in dem Theologen Helmut Gollwitzer –er und Jürgens Vater waren beide 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt – einen Freund und Förderer. Gollwitzer, 1950 als Nachfolger Karl Barths in Bonn auf eine Professur berufen, wechselte 1957 an die Freie Universität Berlin, wo er als einer der ganz wenigen Professoren die Studentenrevolte mit aktiver, wiewohl nicht unkritischer, Solidarität begleitete. Er und seine Frau Brigitte nahmen Treulieb während seines Studiums in Westberlin in ihr Haus auf, in dem zur Zeit des Mordanschlags auf Rudi Dutschke auch dieser, Gretchen Dutschke-Klotz und ihr kleiner Sohn Hosea Che wohnten.
Dutschke und Jürgen Treulieb freundeten sich an. Als SDS-Mitglied und zeitweiliger AStA-Vorsitzender wurde Treulieb zu einem der „Gesichter“ der Studentenrevolte an der Freien Universität. Über diese Jahre berichtete er später in dem Aufsatz: „Mit Golli auf dem langen Marsch“. Die Freundschaft mit Dutschke schlug sich 1983 nieder in dem mit seiner Witwe und dem Journalisten Jürgen Miermeister herausgegebenen rororo-Band: Rudi Dutschke: Die Revolte. Wurzeln und Spuren eines Aufbruchs.
Treuliebs demokratischer Instinkt bewährte sich nach dem Zerfall der antiautoritären Bewegung: Für ihn blieb freiheitlicher Sozialismus untrennbar verbunden mit breitester Partizipation, mit basisdemokratisch fundierter wirtschaftlicher und politischer Teilhabe der Vielen. Keinen Augenblick erlag er wie manche „linken“ Akademiker der Versuchung, sich nunmehr zu Mao oder anderen „Autoritäten“ zu flüchten
1970 legte Treulieb das Examen als Diplompolitologe ab. Als Kultusminister Peter von Oertzen die Gründung der „Reformuniversitäten“ Oldenburg und Osnabrück einleitete, an denen das Modell einer „einphasigen“ (wissenschaftliche und praktische Ausbildung verbindenden) Lehrerausbildung erprobt werden sollte, bewarb er sich bei uns um eine Assistentenstelle. 1976 suchte der damals aufstrebende CDU-Jungspund Fritz Brickwedde in einem sogenannten Rotbuch die Universität Osnabrück als links dominiert („Vorherrschaft der marxistisch-sozialistischen Hochschullehrer“) darzustellen. Treulieb widmete er darin ein komplettes Kapitel, in dem er mehrfach von dessen „Berufung“ durch Minister von Oertzen fabelte.
Treulieb promovierte 1980 mit der Arbeit: Der Landesverratsprozess gegen Viktor Agartz – Verlauf und Bedeutung in der innenpolitischen Situation der Bundesrepublik auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges (Buchausgabe 1982). Der Gewerkschaftsökonom Viktor Agartz war 1957 wegen landesverräterischer Beziehungen angeklagt, vom Bundesgerichtshof jedoch – verteidigt durch Gustav Heinemann und Diether Posser – freigesprochen worden. Treuliebs anschließende Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundestagsfraktion der Grünen (er unterstützte unter anderem 1983-85 Otto Schily im Flick-Parteispenden-Untersuchungsausschuss) fand Niederschlag in der Entwicklung eines Veranstaltungskonzepts, das ihn zurückführte an die Universität:
Er und der Berliner Politologe Herbert Hönigsberger boten ab 2002 am OSI, dann viele Jahre an der Viadrina das Seminar (2wöchige Bundestagshospitation inklusive) „Wissenschaftliche Politikberatung im Deutschen Bundestag“ an, über das ZEIT und Deutschlandfunk ausführlich berichteten. 2012/13 weiteten Treulieb und Artur Kropka an der Viadrina das Seminar ländervergleichend aus: „Struktur und Praxis politischer Beratung: Deutscher Bundestag und polnischer Sejm“, das beide noch bis 2018/19 gemeinsam durchführten. Es stellt Jürgen Treuliebs wissenschaftliches Erbe an der Viadrina dar. Er starb am 30. Juli 2025 in Berlin.
Rainer Eisfeld