Die Kategorie Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie in Gerichtsprozessen der Grafschaft bzw. des Fürstentums Ostfriesland (1643-1744)
Im Kontext der Frühen Neuzeit stellte die Kategorie Geschlecht eins von mehreren Ordnungsprinzipien dar. Die verschiedenen Ordnungsprinzipien dienten zur Strukturierung und Übersichtlichkeit der Gesellschaft. Speziell das Geschlecht als Ordnungskriterium sollte die auf christlichen Vorstellungen aufbauende, binäre Geschlechterordnung aufrechterhalten. Eine Überschreitung der festgeschriebenen Grenzen bedeutete folglich eine Gefährdung der Ordnung sowie die Notwendigkeit, durch Bestrafung die Ordnung wiederherzustellen. Das Gericht wurde in diesem Zusammenhang zu einem Ort, an dem Bewertungs- und Selektionsprozesse entsprechend der allgemeinen Ordnungsvorstellungen stattfanden.
Bei der Untersuchung von Gerichtsprozessen hat die Frühneuzeitforschung lange an der isolierten Betrachtung des Geschlechts festgehalten, wodurch der Kategorie Geschlecht eine hohe Wirkmacht, insbesondere bei Ehe- und Unzuchtsdelikten, attestiert wurde. Neuere Ansätze kritisieren diesen verengten Blick hingegen. Aus dieser Kritik heraus ist das Konzept der ‚mehrfach relationalen Kategorie‘ entstanden. Als Teil der frühneuzeitlichen Intersektionalitätsforschung ist das Geschlecht nunmehr nicht als einzelner Faktor, sondern im Verhältnis zu weiteren Kategorien, wie sozialer Stand, Familienstand, Alter, Ethnizität, religiöse Zugehörigkeit oder auch Leumund, zu untersuchen. Bislang wurden diese methodischen Überlegungen jedoch kaum berücksichtigt, da der Untersuchungsschwerpunkt von Intersektionalitätsstudien vornehmlich auf Gegenwartsgesellschaften liegt.
An dieser Stelle setzt das Promotionsprojekt an. Aufbauend auf der Diskussion um die Relevanz von Geschlecht in der Rechts- und Strafpraxis widmet sich das Projekt der Frage, welche Bedeutung der Kategorie Geschlecht in ostfriesischen Gerichtsprozessen in Interdependenz zu anderen Differenzierungskategorien zukam. An der Schnittstelle von Geschlechter- und Kriminalitätsforschung zielt das Projekt darauf ab, die Verstärkungen, Überschneidungen und auch Neutralisierungen der Differenzierungskategorien zu untersuchen und die Gewichtungen der verschiedenen Kategorien zu ergründen. Auf diese Weise soll das komplexe Zusammenwirken negativer wie positiver Effekte sozialer Differenzen im gerichtlichen Aushandlungsprozess aufgedeckt werden.
Projektleitung
Prof. Dr. Siegrid Westphal
Bearbeitung
Hjördis Bohse