IAK WP 3: Prospektion "Tödliche Zwangsarbeit in Karya"

Bericht über eine historisch-geoarchäologische Prospektion im Rahmen des Projekts Tödliche Zwangsarbeit in Karya der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften der Universität Osnabrück im April 2023
[IAK WP 3, September 2024].

Christoph Rass, Lukas Hennies, Andre Jepsen.

  Tödliche Zwangsarbeit in Karya. Deutsche Besatzung und der Holocaust in Griechenland [online Ausstellung] 

 Danksagung

Einleitung

Die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften hat als Teil des von der Stiftung EVZ geförderten Projekts Tödliche Zwangsarbeit in Karya. Deutsche Besatzung und der Holocaust in Griechenland im April 2023 eine umfassende systematische Erkundung der Bahnstation Karya in Griechenland durchgeführt. Diese Forschungsprospektion zielte darauf ab, Spuren der Zwangsarbeit jüdischer Männer aus Thessaloniki während des Zweiten Weltkriegs an der Bahnstation Karya zu dokumentieren und zu analysieren.
Der vorliegende Bericht gibt Einblicke in die angewandten Methoden, die erhobenen Befunde und die ersten Erkenntnisse dieser Untersuchung.
Den historischen Kontext des Projekts erschließt eine  Filmdokumentation der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Stephan Auch, 2021).
Die in diesem Bericht referierten Prospektionsergebnisse wurden im Mai 2023 bei der  Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit öffentlich vorgestellt.

Die Erforschung von Tatorten bzw. Schauplätzen von Zwangsarbeit, von Kriegsverbrechen sowie des Holocaust stellt eine besondere Herausforderung dar, da diese oft vergessenen oder verdrängten Aspekte der Geschichte häufig nur wenige sichtbare Spuren hinterlassen haben. Zudem waren viele dieser Orte in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg starken Veränderungen unterworfen. Die Bahnstation Karya bietet in diesem Kontext ein exemplarisches Beispiel für die Komplexität der Untersuchung solchermaßen gewaltüberformter Landschaften. An der Bahnstation Karya mussten einige Hundert jüdische Männer aus der Stadt Thessaloniki 1943 Zwangsarbeit leisten, um dort für die deutschen Besatzer ein Ausweichgleis an der Bahnstrecke von Athen nach Thessaloniki zu errichten.

Das erste Ziel der Prospektion bestand darin, ein umfassendes Verständnis für die Komplexität des Ortes Karya in seiner heutigen Erscheinungsform zu entwickeln. Dies umfasste die Dokumentation der verschiedenen Zeitschichten und Transformationen, die der Ort seit seiner Nutzung als Zwangsarbeitslager durchlaufen hat. 

Das zweite Ziel war die Identifikation und Dokumentation von Spuren der Zwangsarbeit und der Opfer mittels verschiedener methodischer Ansätze. Hierbei ging es sowohl um materielle Hinterlassenschaften als auch um die Dokumentation von Veränderungen in der Landschaft, die auf die Zwangsarbeit zurückzuführen sind. 

Das dritte Ziel bestand in der Entwicklung von Methoden zur Zugänglichmachung dieses entlegenen Ortes für die Öffentlichkeit und die Forschung. Dies umfasste die Erprobung verschiedener digitaler Techniken zur Dokumentation und Visualisierung des Ortes und seiner Geschichte.

Folie mit Projekttitel „Projekt und Prospektion: Tödliche Zwangsarbeit in Karya“. Links steht in Textform das Ziel des deutsch-griechischen Projekts im Kontext einer Wanderausstellung, darunter Stichpunkte zu Untersuchungsmethoden und Zielen. Rechts ein historisches Foto mit Menschen und Eisenbahnschienen in bergigem Gelände.
© Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung, Universität Osnabrück
Ziele der Forschungsprospektion des Projekts
“Tödliche Zwangsarbeit in Karya”

Historischer Kontext

Die Geschichte der Bahnstation Karya beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Modernisierung Griechenlands. Als Teil eines der größten Eisenbahnbauprojekte des Landes wurde die Strecke von Athen nordwärts angelegt. Im Jahr 1907 begannen die Arbeiten an den Tunnelbauten in der Region um Karya. 1908 erreichte die Strecke den Ort, an dem die Bahnstation Karya errichtet wurde. 

Historische Karte mit der markierten Bahnstrecke von Athen nach Thessaloniki, ergänzt durch rote Beschriftungen zu Streckenausbau, wichtigen Bahnhöfen und Lage von Karya. Die Städte und Hauptlinien sind deutlich hervorgehoben.
© Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung, Universität Osnabrück
Verlauf der Bahnstrecke Athen-Thessaloniki und
Position der Bahnstation Karya

Der Streckenausbau erfolgte zunächst bis an die Grenze des damals noch osmanischen Territoriums im Norden, zu dem auch die StadtThessaloniki gehörte. Während des Ersten Weltkriegs wurde die Strecke dann weiter ausgebaut und schließlich bis nach Thessaloniki verlängert.

Diese Bahnlinie stellte eine wichtige Verkehrsader dar, die Athen mit dem Norden Griechenlands verband. Mit der deutschen Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg gewann die Bahnstrecke enorme strategische Bedeutung. Sie diente sowohl der Extraktion von Rohstoffen als auch für Truppenbewegungen.

Die Bahninfrastruktur wurde ebenfalls genutzt, um jüdische Menschen zu deportieren, ganz konkret etwa die jüdische Gemeinde von Athen.
Um die Transportkapazität der bis dahin eingleisigen Strecke zu erhöhen, begannen die deutschen Besatzer mit einem schnellen und rücksichtslosen Ausbau der Gleisanlagen.

Im Zuge dieser Baumaßnahmen wurde die Bahnstation Karya 1943 zu einem Schauplatz von Zwangsarbeit. Jüdische Männer aus Thessaloniki wurden hierher deportiert, um unter der Aufsicht der Organisation Todt ein Ausweichgleis und einen dafür notwendigen Hangschnitt zu errichten.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren von extremer Härte, Gewalt und Entbehrung geprägt. Die Zwangsarbeiter mussten unter primitivsten Bedingungen und mit einfachsten Werkzeugen enorme Erdmassen bewegen. 

Der resultierende Hangschnitt, eine Schlucht von etwa 140 m Länge und 25 bis 30 m Tiefe, stellt bis heute das sichtbarste Zeugnis dieser Zwangsarbeit dar.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfuhr die Bahnstrecke durch Karya weitere Veränderungen. In den 1960er Jahren wurde sie im Zuge weiterer Modernisierung zweigleisig ausgebaut.

Dies führte zu erheblichen Umgestaltungen des Geländes und überlagerte teilweise die Spuren der Kriegszeit. In den 1990er Jahren begann der Bau einer neuen Trasse für eine Schnellbahnverbindung zwischen Athen und Thessaloniki.

In der Folge wurden die alten Streckenabschnitte, darunter auch die Strecke durch Karya, sukzessive stillgelegt.

Nach 2009 wurde die Strecke durch Karya endgültig außer Betrieb genommen. Seitdem ist der Bahnhof dem Verfall und teilweise auch der Plünderung ausgesetzt.

Methodik

Die Untersuchungen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften in Karya basierte auf einem multidisziplinären Ansatz, der verschiedene Methoden der Archäologie, Geophysik und digitalen Dokumentation kombinierte. Zur Erfassung der Geländetopografie und zur Erstellung dreidimensionaler Geländemodelle wurden umfangreiche drohnengestützte Luftbildaufnahmen durchgeführt. Diese Methode ermöglichte es, einen Überblick über das gesamte Untersuchungsgebiet zu gewinnen und auch schwer zugängliche Bereiche zu dokumentieren. 

Die Luftbilder wurden mit einer hochauflösenden Kamera aufgenommen, die an einer Drohne montiert war. Die Flüge wurden so geplant, dass eine vollständige Abdeckung der gewählten Geländeausschnitte mit ausreichender Überlappung der einzelnen Aufnahmen gewährleistet war. Dies ist eine Voraussetzung für die spätere photogrammetrische Verarbeitung der Bilder.

Geophysikalische Messungen, hauptsächlich Magnetometrie, wurden eingesetzt, um Informationen über Strukturen und Objekte im Untergrund zu gewinnen, ohne dabei in den Boden eingreifen zu müssen. Diese Methode ist besonders geeignet, um metallische Objekte oder Bereiche mit veränderter Bodenzusammensetzung zu identifizieren.

Bei der Magnetometrie wird die Stärke des Erdmagnetfelds an der Oberfläche gemessen. Anomalien in diesem Feld können auf archäologisch relevante Strukturen oder Objekte im Untergrund hinweisen. Die Messungen wurden in einem Raster über das zu untersuchende Gebiet durchgeführt, wobei besonderes Augenmerk auf den Bereich der ehemaligen Baracken und eine Stelle gelegt, die immer wieder als eine Grablage bezeichnet wird, in der Opfer des Zwangsarbeitseinsatzes bestattet worden sein sollen.

Fotocollage mit Beispielen von Prospektionsmethoden: Drohnen-Luftaufnahmen, geophysikalische Messungen und Oberflächenprospektion durch Forscherinnen und Forscher in hügeligem Gelände.
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Das Methodenrepertoire der
Interdisziplinären Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften

In weniger gestörten Geländebereichen, insbesondere im Bereich der ehemaligen Unterkunftsbaracken für die zur Zwangsarbeit eingesetzten Menschen, wurde eine von den griechischen Behörden genehmigte systematische Oberflächenprospektion durchgeführt. Dabei wurde das Gelände intensiv abgesucht, alle an der Oberfläche sichtbaren Artefakte und Strukturen dokumentiert und, wo möglich, geborgen. Diese Methode ermöglichte es, einen ersten Einblick in die materielle Kultur des Ortes zu gewinnen und Bereiche mit besonders hoher Funddichte zu identifizieren. Die geborgenen Objekte wurden katalogisiert, fotografiert und in ausgewählten Fällen durch 3D-Modelle dokumentiert.

Zur Untersuchung der Bodenschichten, insbesondere im Bereich der vermuteten Grablage, wurden nach einem bereits eindeutig negativen Magnetometriebefund auch Pürckhauer-Bohrungen durchgeführt. Diese minimalinvasive Methode erlaubt es, Informationen über die Stratigraphie des Bodens zu gewinnen, ohne großflächige Ausgrabungen vornehmen zu müssen. Bei der Pürckhauer-Bohrung wird ein schmaler Metallstab in den Boden getrieben, der eine Probe des durchbohrten Erdreichs entnimmt. Diese Probe kann dann auf ihre Zusammensetzung und eventuelle Störungen untersucht werden. Mehrere solcher Bohrungen in einem Raster angeordnet ergeben ein detailliertes Bild der jeweiligen Bodenverhältnisse.

Zur Erstellung virtueller Begehungsmöglichkeiten wurden umfangreiche 360-Grad-Aufnahmen des gesamten Geländes angefertigt. Diese Technik erlaubt es, den Ort in seiner Gesamtheit zu erfassen und für Personen zugänglich zu machen, die nicht physisch vor Ort sein können. Die Aufnahmen wurden mit einer speziellen 360-Grad-Kamera an verschiedenen Standorten im Gelände gemacht. Dabei wurde darauf geachtet, dass alle relevanten Bereiche des Ortes erfasst wurden, von den Überresten der Bahnanlage bis hin zu den Bereichen, in denen sich die Zwangsarbeiterunterkünfte befanden. 

Um die Veränderungen des Ortes über die Zeit sichtbar zu machen, wurde daneben die Rephotography-Technik angewandt. Dabei werden historische Aufnahmen mit aktuellen Fotos vom gleichen Standort aus verglichen. Für diese Methode wurden zunächst die genauen Standorte der historischen Aufnahmen im Gelände identifiziert. Anschließend wurden von diesen Punkten aus neue Aufnahmen gemacht, die möglichst genau die Perspektive der historischen Fotos nachahmen. Durch die Überlagerung der alten und neuen Bilder lassen sich die Veränderungen des Ortes eindrücklich visualisieren.

Basierend auf den Luftbildaufnahmen und ergänzenden terrestrischen Aufnahmen wurden detaillierte 3D-Modelle relevanter Objekte und Geländeabschnitte erstellt. Diese Technik erlaubt es, komplexe räumliche Strukturen zu erfassen und zu analysieren. Für die 3D-Modellierung wurden photogrammetrische Verfahren eingesetzt. Dabei werden aus einer Vielzahl von sich überlappenden Fotografien dreidimensionale Modelle berechnet. Diese Modelle können dann für verschiedene Zwecke genutzt werden, von der detaillierten Dokumentation bis hin zur Erstellung von Virtual-Reality-Anwendungen.   Overview Karya, Landscape Model 2021 by   nghm@uos on  Sketchfab

Befunde

Die Untersuchungen in Karya offenbarten eine komplexe Schichtung verschiedener Zeithorizonte, die sich überlagern. Der älteste identifizierte Zeithorizont stammt aus der ursprünglichen Bauphase der Bahnstrecke. Hierzu gehören die Tunnelbauten und die ursprünglichen Gleisanlagen. Diese Strukturen bilden die Grundlage für alle späteren Entwicklungen des Ortes. Der für die Untersuchung zentrale Zeithorizont ist der der Zwangsarbeit im Jahr 1943. Zu diesem Horizont gehören der markante Hangschnitt, die Überreste der Zwangsarbeiterunterkünfte und verschiedene Kleinfunde, die direkt mit der Zwangsarbeit in Verbindung gebracht werden können.

In den 1960er Jahren erfuhr die Bahnstrecke durch Karya eine umfassende Modernisierung. Der zweigleisige Ausbau führte zu erheblichen Veränderungen des Geländes und überlagerte teilweise die Spuren der Kriegszeit. Zu diesem Horizont gehören erweiterte Gleisanlagen und Veränderungen an den Bahndämmen. Der jüngste Zeithorizont ist geprägt von der sukzessiven Stilllegung der Bahnstrecke ab den 1990er Jahren. Hierzu gehören Spuren des Verfalls und der Plünderung, aber auch Hinterlassenschaften von gelegentlichen Besuchern des Ortes.

Im Bereich der ehemaligen Zwangsarbeiterunterkünfte wurden bei der Prospektion im Rahmen des Projekts Tödliche Zwangsarbeit in Karya insgesamt 96 Objekte geborgen. Diese Funde lassen sich wie folgt kategorisieren: Der Großteil der geborgenen Objekte steht in direktem Zusammenhang mit den Eisenbahnbauarbeiten. Hierzu gehören Eisenbahnschrauben und -nägel verschiedener Größen, Fragmente von Eisenbahnschwellen, Teile von Signalanlagen und Reste von Elektroinstallationen. Diese Funde belegen die intensive Bautätigkeit im Bereich der Bahnanlage durch alle Horizonte und geben Hinweise auf die Art der durchgeführten Arbeiten.

Screenshot eines geografischen Informationssystems (GIS) mit historischem Luftbild aus dem Jahr 1945. Vermerkt sind Bahnstation Karya, Hangschitt und Barackenbereich mit ergänzenden Projektdaten im linken Menü und britischer Quellenangabe.
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Historische Luftaufnahmen im Geoinformationssystem (GIS)

Es wurden außerdem mehrere Fundamente und Mauerreste identifiziert, die den ehemaligen Zwangsarbeiterunterkünften zugeordnet werden können. Diese bestehen hauptsächlich aus einfachen Steinreihen, die als Fundamente für die Holzbaracken dienten. Die Analyse dieser Strukturen erlaubt Rückschlüsse auf die Größe und Anordnung der Baracken.

Besonders bedeutsam sind die wenigen Funde, die direkt mit den Zwangsarbeitern selbst in Verbindung gebracht werden können. Hierzu gehört insbesondere ein Perlmuttknopf von hochwertiger Kleidung. Dieser Fund ist von besonderer Bedeutung, da er ein greifbares Zeugnis der individuellen Schicksale der Zwangsarbeiter darstellt.

Er unterstreicht die Tatsache, dass die Deportierten oft mit ihrer besten Kleidung ankamen, ohne zu wissen, was sie erwartete. Weitere persönliche Gegenstände umfassen Fragmente von Schuhsohlen, Reste von Geschirr und Besteck sowie einzelne Münzen. Obwohl diese Funde zahlenmäßig gering sind, bieten sie wichtige Einblicke in den Alltag und die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter. 

In geringer Zahl wurden auch militärische Artefakte gefunden, darunter Patronenhülsen deutscher Produktion und Fragmente von Ausrüstungsgegenständen. Diese Funde belegen die militärische Präsenz am Ort und könnten auf Gewalt, Konfliktsituationen oder Bestrafungsaktionen hindeuten.

Fototafel mit Fundmaterial aus dem Barackenbereich; zeigt Nahaufnahmen von Eisenobjekten und Baumaterial, Patronenhülsen, Getränkedosen sowie einen Perlmuttknopf. Oben Angabe der Gesamtzahl der aufgefundenen Objekte.
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Ausgewählte Funde im Bereich der Unverkuftsbaracken
Darstellung der Ergebnisse der magnetischen Gradiometermessung im Barackenbereich; links eine Luftaufnahme mit Lage der Baracken und Tunnel, rechts zwei schwarz-weiße Magnetogramme mit markierten Eisensignalen im Boden.
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Befunde magnetometrischer Messungen im Bereich der Unverkunftsbaracken

Die magnetometrischen Messungen im Barackengelände lieferten wichtige Erkenntnisse über die unterirdischen Strukturen des Ortes. Im Bereich der ehemaligen Baracken wurden mehrere magnetische Anomalien festgestellt, die auf tiefer liegende Objekte oder Strukturen hindeuten. Diese Anomalien konzentrieren sich besonders in zwei Bereichen:

Im westlichen Barackenbereich wurden lineare Strukturen identifiziert, die möglicherweise auf Fundamente oder Drainagesysteme hindeuten. Im östlichen Barackenbereich wurden punktuelle Anomalien festgestellt, die auf einzelne metallische Objekte oder Abfallgruben hinweisen könnten. Diese tiefer liegenden Befunde konnten bisher nicht näher untersucht werden. Empfehlenswert wäre eine systematische archäologische Untersuchung des Barackenbereichs.

Basierend auf den magnetometrischen Ergebnissen wurden mehrere Bereiche für mögliche zukünftige Ausgrabungen identifiziert. Diese gezielten Ausgrabungen könnten dazu beitragen, die Natur der festgestellten Anomalien genauer zu bestimmen und weitere Erkenntnisse über die Struktur und Organisation des Zwangsarbeiterlagers zu gewinnen.

Ein besonderer Fokus der Untersuchungen lag auf einem Bereich, der in Berichten als möglicher Ort eines Massengrabes benannt wurde. Die Untersuchungen in diesem Bereich umfassten sowohl magnetometrische Messungen als auch Pürckhauer-Bohrungen.

Die magnetometrischen Messungen in dem als mögliches Massengrab bezeichneten Bereich ergaben keine signifikanten Anomalien, die auf großflächige Bodenstörungen oder die Anwesenheit einer größeren Anzahl von Objekten hindeuten würden. Das Magnetogramm zeigte ein weitgehend homogenes Bild, das dem natürlichen geologischen Untergrund entspricht.

Magnetische Gradiometermessung im Bereich einer vermuteten Grablage; links Luftaufnahme mit markiertem Untersuchungsbereich, rechts ein Magnetogramm ohne auffällige magnetische Störungen oder Hinweise auf gefüllte Gruben.
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Magnetometrischer Befund im Bereich einer als
Grablage bezeichneten Stelle
16.	Luftbild mit eingezeichneten Bohrpunkten zur Untersuchung des Bodens im Gelände; ein erläuternder Text links hält fest, dass die Bohrungen keine Hinweise auf anthropogene Störungen oder Grabstrukturen ergeben haben.
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Platzierung oberflächennaher Bohrungen im Negativbefund

Zur Verifizierung der deutlich negativen magnetometrischen Ergebnisse wurden insgesamt 12 Pürckhauer-Bohrungen in einem Raster über dem fraglichen Gebiet durchgeführt. Die Bohrkerne zeigten folgende Ergebnisse:

Die obere Schicht (0-45 cm) bestand aus Ton, sehr schwach steinig (< 3 Masse-%), rötlich-braun, trocken, mit Rissgefüge. Die mittlere Schicht (45-70 cm) war Ton, schwach steinig (3 bis < 15 Masse-%), gelblich-braun, trocken. Die untere Schicht (ab 70-80 cm) bestand aus anstehenden Tonschichten, die sehr schwer zu durchdringen waren.

Diese Bodenprofile zeigten keine Anzeichen für anthropogene Störungen oder Verfüllungen, die auf ein Massengrab hindeuten würden. Die Schichtung erscheint natürlich und ungestört.

Basierend auf den Ergebnissen der magnetometrischen Untersuchungen und der Pürckhauer-Bohrungen kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass sich an der untersuchten Stelle ein Massengrab befindet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Berichte über Todesfälle und Bestattungen in Karya grundsätzlich angezweifelt werden sollten.

Es ist möglich, dass Einzelbestattungen oder kleinere Gräber aufgrund ihrer geringen Größe nicht detektiert wurden, eventuelle Grablagen sich in anderen, nicht untersuchten Bereichen des weitläufigen Geländes befinden, oder die sterblichen Überreste der Opfer an einen anderen Ort verbracht wurden.

Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, mündliche Überlieferung stets kritisch zu prüfen und mit archäologischen Methoden zu verifizieren. Dabei gilt es selbstverständlich, jedem überlieferten Hinweis auf unbekannte Grablagen nachzugehen. Gleichzeitig zeigen die Befunde, die Schwierigkeit, in einem so weitläufigen und topografisch komplexen Gelände spezifische Befunde zu lokalisieren.

Fototafel mit Bildern von Bohrkernen aus zwölf Probebohrungen; linker Text beschreibt, dass keine Gräber im untersuchten Bereich gefunden wurden, auch wenn die Suche eventuell fortgesetzt werden muss.
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Dokumentation der Bohrkerne: Keine Hinweise auf verfüllte Gruben
Grafik zur magnetischen Gradiometermessung an der Abraumhalde; links Lageplan des Bahngeländes, rechts ein Magnetogramm und Luftbildausschnitt, dazu Erklärung, dass die Fläche nach 1945 verändert und heute unauffällig ist.
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Magnetometrische Befunde im Bereich der Abraumhalde

Die große Abraumhalde, die bei der Anlage des Hangschnitts entstand, wurde ebenfalls genauer untersucht. Die Untersuchungen zeigten, dass die Abraumhalde nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustand von 1943 erhalten ist. Bei den Bauarbeiten in den 1960er Jahren wurden die oberen 10 bis 15 Meter der Halde abgetragen und zur Erweiterung des Bahndamms verwendet. Der heute sichtbare Horizont entspricht also eher dem Zustand während der Mitte der Bauarbeiten 1943.

Entgegen unserer Erwartungen erwies sich die Abraumhalde als weitgehend fundleer. Es konnten keine größeren Eisenobjekte oder Werkzeugteile identifiziert werden, die mit dem Abraum aus dem Hangschnitt dort abgelagert worden sein könnten. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Zwangsarbeiter angehalten waren, Werkzeuge sorgfältig zu verwahren, größere Objekte bereits während der Bauarbeiten oder kurz danach aus dem Abraum entfernt wurden, oder die fundhaltigen oberen Schichten bei den Bauarbeiten in den 1960er Jahren abgetragen wurden.

Die Untersuchung der Abraumhalde lieferte wichtige Erkenntnisse über die geologische Beschaffenheit des Hangschnitts. Die Zusammensetzung des Abraums gibt Aufschluss über die verschiedenen Gesteinsschichten, die bei den Arbeiten durchschnitten wurden, und ermöglicht Rückschlüsse auf die Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter.

Dokumentation und Visualisierung

Ein wichtiger Aspekt des Projekts war die Entwicklung von Methoden zur Dokumentation und Zugänglichmachung des Ortes für die Öffentlichkeit und die Forschung. Hierfür wurden verschiedene digitale Techniken erprobt und eingesetzt.

Zur Erstellung virtueller Begehungsmöglichkeiten wurden umfangreiche 360-Grad-Aufnahmen des gesamten Geländes angefertigt. Die Aufnahmen wurden mit einer hochauflösenden 360-Grad-Kamera an strategisch wichtigen Punkten im Gelände gemacht. Insgesamt wurden über 50 Standorte dokumentiert, die ein umfassendes Bild des Ortes liefern. Aus den 360-Grad-Aufnahmen wurde eine interaktive virtuelle Tour erstellt. Diese ermöglicht es dem Betrachter, sich frei durch das Gelände zu bewegen und verschiedene Perspektiven einzunehmen. Wichtige Punkte wurden mit zusätzlichen Informationen in Form von Text, Bildern oder Audiokommentaren versehen.

Die virtuelle Tour bietet eine wertvolle Ressource für die historische Bildung. Sie ermöglicht es Schülern, Studierenden und anderen Interessierten, den Ort zu “besuchen” und seine Geschichte zu erkunden, ohne physisch anwesend sein zu müssen. Dies ist besonders wichtig für einen so abgelegenen und schwer zugänglichen Ort wie Karya.

Die durch Drohnen erstellten Luftaufnahmen wurden in die Dokumentation eingebettet, um eine umfassende Perspektive auf das Gelände zu bieten. Die Drohnenaufnahmen ermöglichen einen Überblick über das gesamte Areal und verdeutlichen die räumlichen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bereichen des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers. Neben den Überblicksaufnahmen wurden auch Detailaufnahmen von besonders interessanten oder schwer zugänglichen Bereichen gemacht. Dies umfasst beispielsweise den Hangschnitt und die Abraumhalde. Durch wiederholte Drohnenbefliegungen zu verschiedenen Zeitpunkten können auch Veränderungen des Geländes über die Zeit dokumentiert werden. Dies ist besonders wertvoll, um Erosionsprozesse und den fortschreitenden Verfall der Anlagen zu dokumentieren.

Zur Erstellung eines pseudo-3D-Abbilds des Ortes wurde die Plattform Panoee genutzt, die es erlaubt, 360-Grad-Panoramaaufnahmen miteinander zu verbinden und mit Informationen bzw. Daten anzureichern. Dieser Zugang erweist sich als nützliches Werkzeug für eine stärker immersive Dokumentation historischer Orte, die auch über VR-Brillen genutzt werden kann.

Mit Hilfe einer speziellen Kamera wurden mehrere Bereiche des Geländes aufgenommen. Aus diesen Aufnahmen wurde eine Art Rundgang über die Bahnstation Karya erstellt und mit Kontextinformationen versehen. An relevanten Punkten wurden Marker platziert, die beim Anklicken zusätzliche Wissenselemente, historische Fotos oder weiterführende Erklärungen bereithalten.

Die 360-Grad Aufnahmen sind besonders nützlich, um die räumlichen Zusammenhänge und die Topographie des Ortes auch ortsunabhängig zu vermitteln. Herausforderungen ergaben sich aus der begrenzten Reichweite und begrenzter Detailschärfe der Aufnahmen sowie der aufwändigen Arbeit, zahlreiche Einzelaufnahmen zu einem kohärenten Modell zusammenzufügen.

Screenshot einer interaktiven 360°-Tour mit Ansicht einer Bahnstrecke im Gelände von Karya; auf dem Interface werden ein Drohnensymbol und kleine Vorschaubilder zu verschiedenen Aussichtspunkten angezeigt.
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Dokumentation der Station durch 360-Grad-Panoramaaufnahmen
Zwei überblendete Fotos zeigen Eisenbahngleise und Bahnhofsgebäude in einer Hügellandschaft. Links ist ein historisches Bild, rechts die gleiche Ansicht aus heutiger Perspektive, Demonstration des Re-photography-Verfahrens zum Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart.
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Rephotographie zur Situierung historischen Bildmaterials

Die Rephotography-Technik wurde eingesetzt, um die Veränderungen des Ortes über die Zeit sichtbar zu machen. Dabei wurden mit Hilfe eines von Dr. Axel Schaffland an der Universität Osnabrück entwickelten Werkzeugs historische Aufnahmen mit aktuellen Fotos vom gleichen Standort referenziert. Eine besondere Herausforderung bestand darin, die genauen Standorte der historischen Aufnahmen im Gelände zu identifizieren.

Dies erforderte eine genaue Analyse der historischen Fotos und eine sorgfältige Erkundung des Geländes. Von den identifizierten Standorten aus wurden neue Aufnahmen gemacht, die möglichst genau die Perspektive der historischen Fotos nachahmen. Dabei wurde auf vergleichbare Lichtverhältnisse und Jahreszeiten geachtet, um eine möglichst gute Vergleichbarkeit zu gewährleisten.

Die historischen und aktuellen Aufnahmen wurden digital überlagert. Durch das langsame Überblenden zwischen den Bildern lassen sich die Veränderungen des Ortes eindrücklich visualisieren. Diese Technik macht besonders deutlich, wie stark sich das Gelände seit der Zeit der Zwangsarbeit verändert hat. Die Rephotography-Aufnahmen offenbarten signifikante Veränderungen des Geländes:

Das Verschwinden ganzer Geländeabschnitte durch Abtragungen nach dem Krieg, die Verbreiterung des Bahndamms auf das Doppelte seiner ursprünglichen Breite beim zweigleisigen Ausbau, und den fortschreitenden Verfall und die Überwucherung der Anlagen seit der Stilllegung der Bahnstrecke. Diese Veränderungen unterstreichen die Dringlichkeit der Dokumentation und Erforschung solcher Orte, bevor weitere Spuren verloren gehen.

Historisches Schwarzweißfoto zeigt eine Gruppe von Menschen an Bahngleisen in bergigem Gelände bei Karya. Daneben eine kleine moderne Farbaufnahme aus derselben Perspektive, illustriert die georeferenzierte Überblendung zur Dokumentation der Ankunft von Zwangsarbeitern.
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Methodik der Rephotography
Digitales 3D-Modell eines Geländeausschnitts bei Karya mit Beschriftung der wichtigen Elemente: Hangschnitt, Ausweichgleis von 1943 und zweigleisiger Ausbau. Die Geländeformen und Richtung des Eisenbahntrassenbaus sind detailliert erkennbar.
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3D-Modell des Hangschnitts

Basierend auf den Luftbildaufnahmen und ergänzenden terrestrischen Aufnahmen wurden detaillierte 3D-Modelle relevanter Objekte und Geländeabschnitte erstellt. Diese Technik erlaubt es, komplexe räumliche Strukturen mit hoher Genauigkeit zu erfassen und zu analysieren. Für Karya wurden sowohl Luftbilder als auch terrestrische Aufnahmen verwendet, um eine möglichst vollständige Abdeckung zu erreichen.

Ein besonderer Fokus lag auf der detaillierten Modellierung des Hangschnitts, der das prägnanteste Überbleibsel der Zwangsarbeit darstellt. Das resultierende 3D-Modell ermöglicht eine genaue Vermessung und Analyse der Struktur: Die Gesamtlänge beträgt ca. 140 m, die maximale Tiefe 25-30 m, und das geschätzte Aushubvolumen über 100.000 m³. Diese Zahlen verdeutlichen das enorme Ausmaß der von den Zwangsarbeitern geleisteten Arbeit.

Neben den großräumigen Geländemodellen wurden auch einzelne Objekte von besonderem Interesse detailliert modelliert. Dazu gehören eine erhaltene Lore, deren 3D-Modell eine genaue Dokumentation dieses wichtigen Artefakts ermöglicht, das nicht vom Ort entfernt werden konnte.

Auch der Weichenstellhebel, ein Objekt, das schon vor dem Zwangsarbeitseinsatz vorhanden war, konnte durch die 3D-Modellierung präzise dokumentiert werden. Zudem wurden die Fundamente der Zwangsarbeiterunterkünfte modelliert, was eine detaillierte Analyse ihrer Konstruktion und Anordnung ermöglicht.  Karya 2023 - Railroad switch by   nghm@uos on  Sketchfab

Die erstellten 3D-Modelle bieten vielfältige Anwendungsmöglichkeiten: Sie erlauben präzise Messungen und Analysen, die vor Ort nicht oder nur schwer durchführbar wären, dienen als detaillierte digitale Archive des aktuellen Zustands des Ortes, können für Ausstellungen und Bildungszwecke genutzt werden, um den Ort anschaulich zu präsentieren, und bilden die Grundlage für die Entwicklung immersiver VR-Anwendungen, die ein “Eintauchen” in den Ort ermöglichen.

Drei Fotos einer metallischen Bahninfrastruktur-Überrestes: Links als Fund in situ, mittig Ansicht in der Umgebung am Bahngelände, rechts digital als isoliertes 3D-Modell. Darstellung der virtuellen Rekonstruktion von Fundstücken aus dem Gelände.
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3D-Modell eines Weichenstellers aus dem Untersuchungshorizont

Diskussion der Ergebnisse

Die Untersuchungen in Karya haben eine Fülle von Daten und Erkenntnissen geliefert, die nun im Kontext der Forschung zu Zwangsarbeit und Holocaust sowie der archäologischen Methodik diskutiert werden sollen.

Die Forschungen in Karya verdeutlichen die enorme Komplexität von Orten der Zwangsarbeit als archäologische Untersuchungsobjekte. Diese Komplexität ergibt sich aus mehreren Faktoren:

Zwei Farbfotos und ein erläuternder Text dokumentieren Eisenbahnschwellen im Gleisbett und gelagerte Metallschwellen. Ergänzende Infobox zur Herkunft des Materials, mit Bezug zu belgischen Produzenten und Einsatz durch Zwangsarbeiter in den 1920er und 1940er Jahren.
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Materielle Hinterlassenschaften verschiedener Zeitschichten in Karya

Der Ort hat seit seiner Nutzung als Zwangsarbeiterlager mehrfache Umgestaltungen erfahren. Die Bauarbeiten der 1960er Jahre, die sukzessive Stilllegung ab den 1990er Jahren und die anschließende Vernachlässigung haben jeweils Spuren hinterlassen, die die Interpretation der Befunde erschweren.

Das Zwangsarbeiterlager bestand nur für wenige Monate im Jahr 1943. Diese kurze Nutzungsdauer hat zur Folge, dass die materiellen Hinterlassenschaften vergleichsweise gering sind und leicht von späteren Aktivitäten überlagert werden konnten. Als Bahnbaustelle war Karya von vornherein ein Ort der Veränderung.

Die Unterscheidung zwischen Spuren der Zwangsarbeit und Spuren regulärer Bauaktivitäten stellt eine besondere Herausforderung dar.

Die in Karya angewandten Methoden haben sich als effektiv erwiesen, um auch unter schwierigen Bedingungen Erkenntnisse zu gewinnen. Gleichzeitig wurden auch die Grenzen dieser Methoden deutlich. Die Kombination verschiedener Methoden – von geophysikalischen Messungen über Oberflächenprospektionen bis hin zu digitalen Dokumentationstechniken – hat sich als besonders fruchtbar erwiesen. Jede Methode lieferte spezifische Erkenntnisse, die in ihrer Gesamtheit ein umfassendes Bild des Ortes ergeben.

Die magnetometrischen Untersuchungen stießen aufgrund der komplexen Geländestruktur und der mehrfachen Überformung des Ortes an ihre Grenzen. Die Interpretation der Messergebnisse erwies sich als schwierig und unterstreicht die Notwendigkeit, geophysikalische Daten stets im Kontext anderer archäologischer Erkenntnisse zu betrachten.

Die eingesetzten digitalen Techniken zur Dokumentation und Visualisierung haben sich als äußerst wertvoll erwiesen. Sie ermöglichen nicht nur eine detaillierte Erfassung des Ist-Zustands, sondern bieten auch neue Möglichkeiten der Vermittlung und Zugänglichmachung des Ortes.

 Mine cart frame - Karya 2023 by   nghm@uos on  Sketchfab

 Mine cart tub - Karya 2023 by   nghm@uos on  Sketchfab

Die archäologischen Untersuchungen in Karya haben wichtige Beiträge zum Verständnis der Geschichte des Ortes und der Zwangsarbeit in Griechenland während des Zweiten Weltkriegs geliefert. Die geborgenen Funde, insbesondere persönliche Gegenstände wie der Perlmuttknopf, geben Einblicke in die materielle Kultur der Zwangsarbeit. Sie verdeutlichen die Diskrepanz zwischen der Herkunft der Zwangsarbeiter als Stadtbewohner und den harten Bedingungen, denen sie ausgesetzt waren.

Die Vermessung und 3D-Modellierung des Hangschnitts ermöglichen eine präzise Quantifizierung der von den Zwangsarbeitern geleisteten Arbeit. Das enorme Volumen des bewegten Erdreichs unterstreicht die Brutalität und Rücksichtslosigkeit, mit der die deutsche Besatzungsmacht ihre Ziele verfolgte.

Die identifizierten Strukturen und ihre räumliche Anordnung geben Aufschluss über die Organisation des Zwangsarbeiterlagers. Die Trennung zwischen den Bereichen für die Zwangsarbeiter und das deutsche Personal spiegelt die hierarchischen und rassistischen Strukturen wider.

Die Untersuchung der vermuteten Grablage hat wichtige methodische und ethische Fragen aufgeworfen. Die Kombination von geophysikalischen Messungen und minimalinvasiven Bohrungen hat sich als geeigneter Ansatz erwiesen, um mögliche Grablagen zu untersuchen, ohne großflächige Ausgrabungen vornehmen zu müssen. Dennoch bleibt die Identifikation von Einzelgräbern oder kleineren Grabgruppen in einem so weitläufigen und komplexen Gelände eine große Herausforderung.

Panoramafoto mit Pfeilen und Beschriftungen der Geländeformen im Barackenbereich bei Karya. Die Bildbeschreibung markiert Aufschüttungen, Verlauf von Bahngleisen und Standorte früherer Baracken.
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Veränderungen des Geländes durch die Bauarbeiten

Die Diskrepanz zwischen den Zeitzeugenberichten über ein Massengrab und den archäologischen Befunden unterstreicht die Notwendigkeit, mündliche Überlieferungen kritisch zu prüfen und mit anderen Quellen abzugleichen. Gleichzeitig mahnt sie zur Vorsicht bei der Interpretation negativer archäologischer Befunde.

Die Suche nach Grablagen wirft ethische Fragen auf, insbesondere hinsichtlich des respektvollen Umgangs mit möglichen menschlichen Überresten und der Sensibilität gegenüber den Nachfahren der Opfer. Diese Aspekte müssen bei der Planung und Durchführung archäologischer Untersuchungen an Orten der Zwangsarbeit stets berücksichtigt werden.

Zwei Ansichten eines digitalen 3D-Modells einer steilen Geländewand. Links die Übersicht des Geländemodells, rechts ein Handausschnitt der Steilwand in hoher Auflösung zur Dokumentation geologischer und baulicher Details.
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Fotogrammetrie zur Modellierung des Hangeinschnitts

Die Untersuchungen in Karya haben wichtige Impulse für die Erinnerungskultur geliefert. Durch die detaillierte Dokumentation und die entwickelten Visualisierungstechniken wird Karya als Ort der Zwangsarbeit sichtbar und erfahrbar gemacht. Dies ist besonders wichtig für einen Ort, der bisher weitgehend vergessen und vernachlässigt wurde.

Die erstellten digitalen Modelle und virtuellen Touren bieten neue Möglichkeiten, die Geschichte des Ortes einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Sie können als Grundlage für innovative pädagogische Konzepte dienen.

Die Untersuchungen in Karya ermöglichen es, die lokale Geschichte des Ortes mit dem größeren Kontext der Zwangsarbeit und des Holocaust in Europa zu verknüpfen. Sie tragen dazu bei, das Verständnis für die Weitläufigkeit und Systematik des NS-Zwangsarbeitssystems in Griechenland bzw. den besetzten Gebieten zu vertiefen und den Holocaust in Griechenland sowie insbesondere das Schicksal der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki besser zu verstehen.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Die Forschungsprospektion in Karya hat wichtige erste Erkenntnisse zur Struktur und Geschichte dieses Ortes der Zwangsarbeit und zugleich eines Tatort des Holocausts geliefert. Gleichzeitig hat sie neue Fragen aufgeworfen und Bereiche für zukünftige Forschungen identifiziert.

Die Untersuchungen haben die Vielschichtigkeit von Karya als archäologischer Fundort offenbart. Die mehrfachen Überformungen des Geländes seit 1943 erschweren die Interpretation der Befunde, machen den Ort aber auch zu einem interessanten Fallbeispiel für die Langzeitentwicklung von Orten der Zwangsarbeit.

Die Kombination verschiedener archäologischer, geophysikalischer und digitaler Methoden hat sich als fruchtbar erwiesen. Insbesondere die Anwendung moderner Dokumentations- und Visualisierungstechniken eröffnet neue Möglichkeiten für die Erforschung und Vermittlung solcher Orte.

Trotz der schwierigen Ausgangslage konnten wichtige Erkenntnisse über die Organisation des Zwangsarbeiterlagers und die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter gewonnen werden. Die materiellen Spuren ergänzen und konkretisieren das aus schriftlichen Quellen bekannte Bild.

Die bisherigen Untersuchungen haben vielversprechende Bereiche für zukünftige, detailliertere archäologische Grabungen identifiziert. Insbesondere der Bereich der ehemaligen Zwangsarbeiterunterkünfte könnte bei systematischer Ausgrabung weitere wichtige Erkenntnisse liefern.

Die Konzentration auf den unmittelbaren Bereich der Bahnstation und des Hangschnitts lässt Fragen nach möglichen weiteren Strukturen in der Umgebung offen. Eine Ausweitung der Untersuchungen auf das weitere Umfeld könnte zusätzliche Erkenntnisse über die räumliche Organisation des Zwangsarbeitseinsatzes liefern.

Textfolie mit stichpunktartigen Erkenntnissen zum Stand des Projekts und den nächsten Zielen, unter anderem zur Datenauswertung, Rekonstruktion und weiterem Forschungsbedarf an Orten der Zwangsarbeit in Griechenland, exemplarisch am Beispiel Karya.
© Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung, Universität Osnabrück
Zusammenfassung und Ausblick

Um die Erkenntnisse aus Karya in einen breiteren Kontext zu stellen, wären vergleichende Studien mit anderen Orten der Zwangsarbeit in Griechenland und darüber hinaus wünschenswert. Dies könnte dazu beitragen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Organisation und Durchführung von Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten sowie im Kontext des Holocausts herauszuarbeiten.

Die in Karya erprobten digitalen Dokumentations- und Visualisierungstechniken bieten großes Potenzial für die weitere Entwicklung. Insbesondere die Integration von Virtual und Augmented Reality-Technologien könnte neue Wege der Vermittlung und wissenschaftlichen Analyse eröffnen.

Die Untersuchungen haben die Dringlichkeit von Maßnahmen zum Schutz und zur Erhaltung des Ortes deutlich gemacht. Der fortschreitende Verfall und die Gefahr von Plünderungen bedrohen die noch vorhandenen Spuren der Zwangsarbeit. Es sollten Konzepte entwickelt werden, um den Ort vor weiterer Zerstörung zu bewahren.

Die entwickelten digitalen Modelle und virtuellen Touren bieten eine gute Grundlage, um Karya als Ort der Erinnerung zugänglich zu machen. Es sollten Konzepte erarbeitet werden, wie diese digitalen Ressourcen in der historischen Bildungsarbeit und der Erinnerungskultur eingesetzt werden können.

Es sollte nun insbesondere geprüft werden, wie Karya in bestehende oder zu entwickelnde Strukturen des Gedenkens an die Zwangsarbeit und den Holocaust in Griechenland bzw. in Europa integriert werden kann.