Tolstoi: Geschichte als Konstrukt
Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung
Prof. Dr. Christoph A. Rass
[IMIS] [SFB1604] [HistOS]
Leo Tolstoi und die Kritik der Geschichtsschreibung
Eine Begegnung mit Eugene Schuyler im Jahr 1868.
Kontext
Im Oktober 1868 reiste der amerikanische Diplomat und Gelehrte Eugene Schuyler zu Leo Tolstoi nach Yasnaya Polyana. Der russische Schriftsteller arbeitete zu diesem Zeitpunkt an den letzten Teilen von "Krieg und Frieden" und dachte intensiv über die Grundlagen der Geschichtsschreibung nach. Tolstoi hatte bereits vier der sechs geplanten Teile seines Romans veröffentlicht und setzte sich nun mit Kritik an seiner Darstellung der napoleonischen Kriege auseinander.
Es ergab sich ein Gespräch zwischen Schuyler und Tolstoi im Arbeitszimmer des Schriftstellers, das Schuyler wiederum in einem zwei Jahrzehnte später veröffentlichten Text wiedergab (Schuyler 1889, S. 537-539). Er schildert, wie beide umgeben von französischen Klassikern und einer umfangreichen Sammlung von Werken über Napoleon und seine Zeit über die Herstellung historischer Narrative sprachen. Tolstoi entwickelte dabei seine Kritik an der konventionellen Geschichtsschreibung und formulierte Positionen, die über die Literatur hinaus geschichtstheoretische Relevanz besitzen.
Tolstois Theorie der Geschichtsproduktion
Historiker:innen und Künstler:innen
Tolstoi entwickelte eine klare Trennung zwischen den Zielen des "Historikers" und denen des "Künstlers". Diese Unterscheidung bildete eine Grundlage seiner methodischen Überlegungen zur Darstellung historischer Ereignisse. Der Historiker, so argumentierte Tolstoi gegenüber Schuyler, befasse sich mit "Helden", der Künstler mit "Menschen". Der Historiker behandle die Ergebnisse von Ereignissen, der Künstler die Fakten, die mit dem Ereignis verbunden sind (Schuyler 1889, S. 550).
Diese erkenntnistheoretische Position zielte nicht darauf ab, Geschichte als unwissenschaftlich zu diskreditieren, sondern die jeweiligen Grenzen und Möglichkeiten beider Ansätze zu bestimmen. Tolstoi sah darin eine methodische Voraussetzung für sein eigenes Arbeiten an "Krieg und Frieden".
Die Kritik der Schlachtdarstellungen
Besonders deutlich kritisierte Tolstoi die Art, wie "Schlachten" in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung dargestellt wurden. Seine Analyse zielte dabei eigentlich auf die strukturellen Mechanismen, durch die historische Narrative entstehen und sich durchsetzen. Schlachtbeschreibungen, so Tolstoi, enthalten "ein gewisses Maß an Falschheit, das aufgrund der Notwendigkeit unerlässlich ist, in wenigen Worten die Handlungen von Tausenden von Menschen zu beschreiben" (Schuyler 1889, S. 550).
Die Borodino-Episode
Tolstois Darstellung der Entstehung historischer Narrative am Beispiel der Schlacht von Borodino zeigt konkret, wie Geschichte gemacht wird.
"Schlachten werden natürlich fast immer von den beiden Seiten auf widersprüchliche Weise beschrieben, aber darüber hinaus gibt es in jeder Beschreibung einer Schlacht ein gewisses Maß an Falschheit, das aufgrund der Notwendigkeit unerlässlich ist, in wenigen Worten die Handlungen von Tausenden von Menschen zu beschreiben, die über einen Raum von mehreren Meilen verteilt sind, alle unter der stärksten moralischen Erregung, unter dem Einfluss der Angst vor Schande oder Tod.
Gehen Sie sofort nach einem Gefecht oder sogar am zweiten oder dritten Tag, bevor die offiziellen Berichte geschrieben werden, zu allen Truppen und befragen Sie alle Soldaten und die höheren und niederen Offiziere, wie die Dinge verlaufen sind: All diese Menschen werden Ihnen erzählen, was sie wirklich gefühlt und gesehen haben, und Sie werden einen Eindruck erhalten, der großartig, kompliziert, immens vielfältig und feierlich ist, aber keineswegs klar; Sie werden von niemandem erfahren, noch weniger vom Oberbefehlshaber, wie genau das Ganze abgelaufen ist. Aber in zwei oder drei Tagen beginnen offizielle Berichte einzugehen, Schwätzer beginnen zu beschreiben, was sie nie gesehen haben, schließlich wird der ganze Bericht zusammengestellt, und dies schafft eine Art öffentliche Meinung in der Armee. Es ist so viel einfacher, alle seine Zweifel und Fragen durch diesen falschen, aber immer klaren und schmeichelhaften Bericht zu lösen. Wenn Sie einen Monat oder zwei später einen Mann befragen, der an der Schlacht teilgenommen hat, werden Sie in seiner Geschichte nicht mehr das rohe, lebendige Material spüren, das vorher da war, denn er wird es entsprechend dem offiziellen Bericht erzählen. Die Einzelheiten der Schlacht von Borodino wurden mir von vielen klugen Männern erzählt, die daran teilgenommen haben und noch leben. Sie alle erzählten dieselbe Geschichte, alle entsprechend den unwahren Berichten von Mikailofsky-Danilefsky, Glinka usw., und berichteten sogar dieselben Details auf dieselbe Weise, obwohl sie meilenweit voneinander entfernt gewesen sein müssen." (Schuyler 1889, S. 550-551)
Der Mechanismus der nachträglichen Vereinheitlichung
Tolstois verweist auf einen Prozess der systematischen Geschichtskonstruktion, die er in drei Phasen teilt: die unmittelbare, chaotische Erfahrung, die institutionelle Überformung und die nachträgliche Vereinheitlichung der Erinnerung in einem dominanten Narrativ. Besonders die letzte Phase verdeutlicht, wie offizielle Darstellungen individuelle Erinnerungen überlagern und dabei das "rohe, lebendige Material" der ursprünglichen Erfahrung verdrängen.
Biografische Dimension und institutionelle Macht
Tolstois eigene Erfahrung als Kriegsteilnehmer (Krimkrieg) verlieh seiner Kritik zusätzliches Gewicht. Er schilderte Schuyler eine konkrete Episode, die seine theoretischen Überlegungen untermauerte:
"Nach dem Fall von Sevastopol sandte mir General Kryzhanofsky, der Artilleriechef, die Berichte der Artillerieoffiziere von allen Bastionen und bat mich, diese zwanzig oder mehr Berichte zu einem zu vereinigen. Ich bedaure sehr, dass ich keine Abschriften dieser Berichte genommen habe. Es war ein ausgezeichnetes Beispiel für die naive, unerlässliche, militärische Lüge, aus der Beschreibungen gemacht werden. Ich nehme an, dass viele meiner Kameraden, die damals diese Berichte machten, über die Erinnerung lachen würden, dass sie von ihren Vorgesetzten angewiesen wurden, über das zu schreiben, was sie nie gesehen hatten. Alle, die einen Krieg erlebt haben, wissen, wie geeignet die Russen sind, ihre militärische Pflicht zu erfüllen, und wie ungeeignet sie sind, sie mit der unerlässlichen, prahlenden Lüge zu beschreiben. Jeder weiß, dass in unseren Armeen diese Pflicht, die Zusammenstellung von Berichten, im Allgemeinen von unseren Offizieren nicht-russischer Herkunft übernommen wird." (Schuyler 1889, S. 550-551)
Diese Erfahrung illustrierte, wie institutionelle Anforderungen die Konstruktion historischer Narrative bestimmen. Die von Tolstoi beschriebene "unvermeidliche militärische Lüge" entstand nicht aus einer bestimmten Absicht der Autoren, sondern aus strukturellen Zwängen der Berichterstattung und der Notwendigkeit, komplexe Ereignisse in vereinfachte Narrative zu überführen.
Geschichtstheoretische Analyse
Die Konstruktion historischer Wahrheit
- Tolstois Analyse zeigt, wie historische Narrative nicht einfach aufgefunden, sondern aktiv konstruiert werden. Der von ihm beschriebene Prozess - von der vielfältigen, widersprüchlichen Erfahrung zur vereinheitlichten offiziellen Version - illustriert, wie institutionelle Strukturen und diskursive Praktiken die Produktion historischen Wissens bestimmen.
- Diese Einsicht antizipiert bereits zentrale Erkenntnisse der konstruktivistischen Geschichtstheorie des 20. Jahrhunderts. Tolstoi erkannte, dass die Transformation von unmittelbaren Erfahrungsberichten in standardisierte historische Narrative zeigt, wie Macht und Autorität in die Konstruktion historischer Wahrheit eingreifen.
Die epistemologische Dimension
Tolstois Unterscheidung zwischen "Historiker" und "Künstler" reflektiert eine grundlegende epistemologische Frage: die Bedingungen historischer Erkenntnis. Seine Kritik richtet sich gegen die Annahme, dass Geschichte objektiv und vollständig darstellbar sei. Die von ihm beobachtete "notwendige Falschheit" in Schlachtbeschreibungen verweist auf die strukturelle Unmöglichkeit, komplexe historische Ereignisse ohne Reduktion und Vereinfachung zu erfassen.
Militärische Berichterstattung als Paradigmafall
Tolstois Fokus auf militärische Berichterstattung war methodisch begründet. Militärische Ereignisse galten in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als besonders "objektiv" darstellbar, da sie scheinbar klare Fakten, messbare Ergebnisse und dokumentierte Abläufe bieten. Indem Tolstoi gerade diese vermeintlich "harten" historischen Fakten als konstruiert entlarvte, stellte er die Grundlagen der traditionellen Geschichtsschreibung in Frage.
Methodologische Konsequenzen
- Die von Tolstoi entwickelte Kritik hat weitreichende methodologische Implikationen. Seine Forderung nach einer strikten Unterscheidung zwischen historischen und künstlerischen Zielen sowie seine Warnung vor der unkritischen Übernahme dominierender bzw. machtvoll erzeugter Narrative lassen sich als Plädoyer für eine kritischere, quellenbewusstere Geschichtswissenschaft lesen.
- Seine Betonung der Bedeutung unmittelbarer Zeugenberichte und seine Skepsis gegenüber nachträglichen Systematisierungen antizipieren methodische Ansätze der Oral History und der Mikrogeschichte. Seine Sensibilität für die politischen und kulturellen Dimensionen der Geschichtsschreibung weist auf spätere Entwicklungen in der Geschichtstheorie voraus.
Einordnung und Bewertung - was können wir für die geschichtswissenschaftliche Praxis lernen?
- Tolstois Geschichtsverständnis lässt sich als frühe Form des historischen Konstruktivismus interpretieren. Seine Einsicht, dass historische Wahrheit durch komplexe soziale und institutionelle Prozesse produziert wird, antizipiert spätere geschichtstheoretische Entwicklungen späterer Jahrzehnte.
- Gleichzeitig bleibt Tolstoi nicht bei einem relativistischen Geschichtsverständnis stehen. Seine minutiöse Quellenarbeit für "Krieg und Frieden" und sein Beharren auf historischer Genauigkeit zeigen, dass er nicht die Möglichkeit historischen Wissens als solche bestreitet. Vielmehr plädiert er für eine reflektiertere, methodisch bewusstere Herangehensweise an historische Quellen.
- Die Begegnung zwischen Schuyler und Tolstoi dokumentiert damit nicht nur die Entstehungsgeschichte eines der bedeutendsten Romane der Weltliteratur, sondern kann uns auch als Lehrstück zur Reflexion einer geschichtstheoretischen Position dienen, die ihrer Zeit damals durchaus voraus war und Antworten auf zentrale Fragen der modernen Geschichtswissenschaft vorprägte.
Quelle:
Schuyler, Eugene: "Count Leo Tolstoy Twenty Years Ago", in: Scribner's Magazine, Vol. V, 1889, S. 537-552.
Weiterlesen:
Leo, Per: "Leos Kreuzgang. Die Schlacht zwischen literarisierender Historie und historisierender Literatur", in: Christoph Rass/Mirjam Adam (Hrsg.): Konfliktlandschaften interdisziplinär lesen (= Konfliktlandschaften, Band 1), Göttingen: V&R unipress/Universitätsverlag Osnabrück 2022, S. 409-434.