Digital Humanities | Digital History
Prof. Dr. Christoph Rass
Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung
[IMIS] [SFB1604] [HistOS]
Digital History und Digital Humanities: Grundlagen, Methoden und Perspektiven für die geschichtswissenschaftliche Praxis
Einführung: Der digitale Wandel in der Geschichtswissenschaft
Die Digitalisierung der letzten Jahrzehnte hat die geschichtswissenschaftliche Forschung und Lehre stark transformiert. Dies betrifft nicht nur den Zugang zu Quellen und Literatur durch Massendigitalisierungsprojekte, sondern auch die Entwicklung neuer Forschungsumgebungen, Werkzeuge und Publikationsinfrastrukturen ( Döring et al., 2022). Vom Auffinden und Analysieren historischer Quellen bis zur Präsentation und Vermittlung historischer Erkenntnisse hat sich die Disziplin grundlegend gewandelt. Digital History verbindet dabei traditionelle geschichtswissenschaftliche Methoden mit computationalen Ansätzen und schafft neue Möglichkeiten für Forschung, Lehre und Öffentlichkeitsarbeit.
Für angehende Historiker:innen ist die Aneignung digitaler Kompetenzen heute essenziell, unabhängig davon, ob sie eine forschungsnahe oder eine anwendungsorientierte Karriere anstreben. Die Universität Passau bietet bereits seit einiger Zeit – wie viele andere Universitäten auch – in ihrem Masterstudiengang Geschichte eine Spezialisierung im Feld der Digital History an.
Die curriculare Aufgabe einer Digital-History-Ausbildung geht dabei über die bloße Handhabung von Software hinaus. Erfahrungen aus verwandten Studiengängen zeigen, dass fundierte Kenntnisse im Bereich Digital History auch informationstechnische und theoretische Grundlagen umfassen müssen, etwa von Datenbankdesigns, des Programmierens oder der Statistik. Digital History verlangt von Studierenden also, nicht nur die Werkzeuge nutzen zu können, sondern die zugrunde liegende Logik der Datenmodellierung oder die Prinzipien digitaler Infrastrukturen zu verstehen, um die gewonnenen Ergebnisse kritisch hinterfragen zu können.
1. Theoretische Grundlagen: Digital Humanities und Digital History
1.1 Digital Humanities als interdisziplinäres Feld
Digital Humanities (DH) bezeichnet allgemein die Anwendung computergestützter Methoden in den Geisteswissenschaften. Es handelt sich um ein interdisziplinäres Feld, das digitale Technologien nutzt, um geisteswissenschaftliche Fragestellungen zu bearbeiten, Daten zu analysieren und Forschungsergebnisse aufzubereiten. Matthew Kirschenbaum (2014) definiert das Feld als "methodological outlook" mit starker sozialer Dimension, während die Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften betont, dass die Verknüpfung technischer Innovationen mit geisteswissenschaftlichen Forschungsfragen die Grundlage der Digital Humanities bildet.
Nach Burdick et al. (2012, MIT Press) zeichnet sich das Feld durch vier Kernaktivitäten aus: making, connecting, interpreting und collaborating. Wichtig ist dabei, dass die digitalen Verfahren die traditionellen Methoden nicht ersetzen, sondern erweitern. Brennan (2018) charakterisierte die Digital Humanities als "eine Erweiterung traditioneller Wissensmethoden und -fertigkeiten, kein Ersatz für sie", sondern eine Ergänzung der geisteswissenschaftlichen Forschung durch neue Werkzeuge und Kooperationsformen.
Das Feld, das ursprünglich als "Humanities Computing" bezeichnet wurde, galt lange Zeit als primär technische Unterstützung der klassischen Geisteswissenschaften ( Custer, 2014). Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte wandelte sich diese Wahrnehmung, und die Disziplin entwickelte sich von einer technischen Hilfswissenschaft zu einem eigenständigen analytischen Feld. Die Komplexität der digitalen Methoden begünstigt dabei auch einen Kulturwandel in der Forschung: weg von der singulären Historikerpersönlichkeit, hin zu interdisziplinärer und kollaborativer Arbeitspraxis in interdisziplinären Teams ( Alves, 2014).
1.2 Digital History als fachspezifische Ausprägung
Digital History ist ein Spezialbereich der Digital Humanities, der sich auf historische Fragestellungen konzentriert. Seefeldt und Thomas (2009) definierten Digital History prägnant als "an approach to examining and representing the past that works with the new communication technologies of the computer, the internet network, and software systems." Entscheidend ist auch dabei die Abgrenzung von der bloßen Digitalisierung als einer Art Hilfswissenschaft: Digital History schafft interpretative Rahmen, die es ermöglichen, historische Argumente auf neue Weise zu erfahren und nachzuvollziehen.
Hannu Salmi charakterisiert in seinem Standardwerk What is Digital History? (2021, Polity Press) das Feld als "emerging field that draws on digital technology and computational methods" und betont ebenfalls die globale, kollaborative Dimension. Digital History, so drücken es die Projektbeteiligten des entsprechenden Studiengangs an der Humboldt-Universität Berlin aus, adaptiert digitale Methoden für die Geschichtswissenschaft und reflektiert zugleich deren Einfluss. Sie ist Teil des fortlaufenden Digitalisierungsprozesses im Fach und gestaltet diesen aktiv mit.
1.3 Das Verhältnis zwischen Digital Humanities und Digital History
Das Verhältnis zwischen beiden Feldern lässt sich als verschachteltes Modell verstehen: Digital History operiert als Teilbereich der Digital Humanities mit spezifisch geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen, Methoden und hermeneutischen Ansätzen. Wettlaufer (2016) argumentiert in der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, dass die kognitiven Interessen und Hermeneutiken zwischen Literaturwissenschaft und Geschichte zu unterschiedlich sind, um undifferenziert dieselben digitalen Werkzeuge zu nutzen – es bedarf stets disziplinspezifischer Anpassungen.
Die digitale Geschichtswissenschaft fragt auch danach, wie sich die Praxis der Disziplin durch digitale Medien verändert und welche neuen Perspektiven sich ergeben. So umfasst Digital History sowohl die kritische Nutzung digitaler Werkzeuge zur historischen Forschung als auch die Untersuchung der Geschichte des Digitalen selbst. Die Digital History fördert insbesondere die kritische Analyse digitaler Quellen und Methoden, von der Handschrifterkennung bis zur 3D-Rekonstruktion historischer Objekte.
2. Methodenspektrum der Digital History
Die methodische Vielfalt der Digital History lässt sich in acht Kernbereiche gliedern, die in der Forschungspraxis eng verzahnt sind. Grundsätzlich zählen alle Aktivitäten dazu, die digitale Technologie einsetzen, um neue historische Einsichten zu gewinnen oder historische Informationen aufzubereiten.
2.1 Text Mining und computergestützte Textanalyse
Die Auswertung großer Textmengen mittels Computer zählt zu den wichtigsten Methoden der Digital History. Jo Guldi dokumentiert in ihrer wegweisenden Studie im American Historical Review (2024) eine "Revolution" in der historischen Textanalyse. Historiker:innen nutzen Natural Language Processing (NLP) Tools, um Wort- und Begriffshäufigkeiten zu analysieren, Themen in Textkorpora mittels Topic Modeling zu erkennen oder Namen und Orte automatisch zu identifizieren ( Bowen, 2020).
Konkrete Forschungsbeispiele zeigen die Bandbreite dieses Arbeitsfeldes: Luke Blaxill veröffentlichte 2020 mit The War of Words eine geschichtswissenschaftliche Monographie, die Text-Mining konsequent als Hauptmethode nutzt, um Sprachmuster im Kontext von Wahlen in Großbritannien zwischen 1880 und 1910 zu analysieren. In der Zeitschrift Current Research in Digital History untersucht ein Forschungsteam mittels LDA-Topic-Modeling die Evolution wissenschaftlicher Diskurse im American Journal of Science (1818–1922) über mehr als ein Jahrhundert hinweg.
Nach Nielbo et al. (Nature Reviews Methods Primers 2024) lassen sich drei methodologische Entwicklungsstufen des Textminings unterscheiden: Feature-based Models (manuelle Feature Engineering, Worthäufigkeiten, Dictionary-Ansätze), Representation Learning (Word Embeddings, Topic Modeling) und Generative Models (GPT-4, LLaMa2, fortgeschrittenes NLP).
2.2 Netzwerkanalyse
Die geschichtswissenschaftliche Netzwerkforschung untersucht Beziehungen zwischen Personen, Orten und Objekten. Mit Tools wie Gephi oder Palladio lassen sich Netzwerke zwischen historischen Akteur:innen visualisieren und quantitativ untersuchen. Marten Dürings Studie Verdeckte soziale Netzwerke im Nationalsozialismus (2015, De Gruyter) analysierte 5.000 Hilfsbeziehungen mit 1.500 Helfer:innen während des Holocausts und deckte dabei die Zeitlichkeit von Hilfsbeziehungen auf, die das Denunziationsrisiko reduzierten.
Das Six Degrees of Francis Bacon-Projekt visualisiert soziale Netzwerke des frühneuzeitlichen Englands mit über 13.000 Personen und 200.000 Beziehungen. Das Journal of Historical Network Research (gegründet 2017) bietet eine dedizierte Publikationsplattform für diese Forschungsrichtung.
2.3 Geographic Information Systems (GIS) und Spatial History
Historical GIS (HGIS) hat sich seit den späten 1990er Jahren als vitale Teildisziplin etabliert. Ian Gregory und Paul Ell definieren in Historical GIS: Technologies, Methodologies and Scholarship (2007, Cambridge University Press) vier charakteristische Merkmale: Geographische Fragen treiben die Forschung an, geographische Informationen liefern substantielle Evidenz, diese wird in raum-zeitlichen Datenbanken strukturiert, und Argumente werden in Karten und traditionellen Medien präsentiert.
Anne Kelly Knowles' Forschung zum Battle of Gettysburg nutzte Viewshed-Analysen auf digitalen Geländerekonstruktionen, um zu untersuchen, was General Lee sehen konnte – veröffentlicht als Smithsonian-Feature (2013). Das Stanford Spatial History Project unter Richard White analysiert transkontinentale Eisenbahnen und räumliche Transformation des amerikanischen Westens. Geoff Cunfer nutzte GIS-Analysen von über 400 Counties in den Great Plains, um vorherrschende Theorien über die Dust Bowl der 1930er Jahre herauszufordern.
2.4 Datenvisualisierung und interaktive Darstellungen
David Staley argumentiert in Computers, Visualization, and History (2003, M.E. Sharpe), dass Visualisierungen "processed information" darstellen, die als eigenständige Forschungsprodukte gelten können. Sie müssen integral in Konzeption, Forschung und Komposition eingebunden sein. Das Imaging the French Revolution-Projekt analysierte 42 Bilder von Gewaltdarstellungen mit digitalen Bildwerkzeugen. Die Visualisierung der Reisedaten Katherine Dunhams 1950–1953 in Current Research in Digital History (2019) nutzte Tanz als Denkmodus für Bewegungsarchive.
2.5 Digitale Archive und Datenbanken
Digitale Archive gehen über bloße Digitalisierung hinaus durch erweiterte Suchfunktionalität, Annotation und Vernetzung. Das Texas Slavery Project von Andrew Torget kombiniert jährliche Zensusdaten über Sklavenhalter:innen mit räumlicher Kartierung der Ausbreitung der Sklaverei in der Grenzregion zwischen Texas und Mexiko. Das Transkribus-Projekt der Universität Innsbruck nutzt KI-gestützte Handschrifterkennung und erreicht Zeichenfehlerraten von 5–10 % für Schriften, auf die der Algorithmus trainiert wird.
2.6 Digitale Quellenkritik
Die Anpassung traditioneller Quellenkritik an digitale Materialien ist zentral. Pascal Föhr entwickelt in Historische Quellenkritik im Digitalen Zeitalter (2019, Schwabe) einen umfassenden Ansatz. Andreas Fickers prägt den Begriff "scalable reading" – die Fähigkeit, zwischen makroskopischen Mustern und mikroskopischen Details zu wechseln. Paul Gooding dokumentiert in Historic Newspapers in the Digital Age (2017, Routledge), dass die Burney Collection der British Library nur 75,6 % korrekt erkannte Zeichen aufweist – ganze Wörter wurden weniger als 50 % der Zeit korrekt erkannt.
2.7 Digitale Editionen und Textencoding
Digitale Editionen nutzen Standards wie TEI (Text Encoding Initiative) für maschinenlesbare, annotierte Texte. Das Projekt Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800 bietet vernetzte TEI-kodierte Materialien. Patrick Sahles grundlegender Aufsatz " What is a Scholarly Digital Edition?" (2016, Open Book Publishers) definiert Qualitätsstandards. Die Constance de Salm Correspondence am DHIP Paris digitalisiert über 11.000 Seiten handschriftlicher Korrespondenz mit Inhaltserschließung.
2.8 Computational Methods & Machine Learning
Algorithmische Ansätze umfassen Data Modeling, Simulation und statistische Analyse. Das Gilded Age Plains City Project von Timothy Mahoney integriert multiple digitale Methoden für räumliche Narrative von Lincoln, Nebraska, in den 1890er Jahren. Wevers und Smits nutzten 2019 Convolutional Neural Networks zur Bildklassifikation in einem Jahrhundert niederländischer Zeitungen. Ter Braake et al. argumentieren in Computational History and Data-Driven Humanities (2016, Springer), dass "tool criticism" integraler Bestandteil der historischen Methodologie werden muss.
3. Künstliche Intelligenz und die Transformation der Digital History
Künstliche Intelligenz verändert Digital History fundamental seit 2020, sowohl durch technische Durchbrüche als auch durch kritische Herausforderungen.
3.1 Handschriftenerkennung und OCR
Transkribus ist die prominenteste HTR-Plattform für historische Dokumente, entwickelt durch das EU-finanzierte READ-Projekt. Mit Deep Learning erreicht sie beeindruckend niedrige Zeichenfehlerraten und unterstützt multiple Sprachen und Schriften (deutsche Kurrent, gotische Buchschrift). Über 30 Workshops wurden seit 2016 durchgeführt. Die Plattform ermöglicht Volltext-Suche in Manuskriptsammlungen und macht marginalisierte Texte zugänglich wie lateinamerikanische Manuskripte des 16. oder 17. Jahrhunderts.
3.2 Large Language Models in der Geschichtswissenschaft
Christian Götter diskutiert in der Historischen Zeitschrift (2024) die Implikationen von KI für die Geschichtswissenschaft und argumentiert, dass es "mehr als ein neues Werkzeug für die Digital History" ist. Mareike König (2024) bietet auf dem DHIP-Blog praktische Anleitungen zu "ChatGPT und Co. in den Geschichtswissenschaften" mit konkreten Prompt-Beispielen.
Das American Historical Review-Forum vom September 2023 thematisierte die epistemologischen und ethischen Herausforderungen von LLMs in der historischen Forschung. Die American Historical Association veröffentlichte im August 2024 " Guiding Principles for AI in History Education", die einen ethischen Rahmen für den verantwortungsvollen Einsatz bieten.
4. Praktische Werkzeuge und Workflows
4.1 Personal Information Management
Ian Milligan dokumentiert in The Transformation of Historical Research in the Digital Age (2022, Cambridge University Press) die fundamentale Veränderung historischer Forschungspraxis durch digitale Workflows. Für Historiker:innen haben sich folgende Tools als zentral erwiesen:
Zotero ist neben Citavi das führende Open-Source-Literaturverwaltungssystem für Historiker:innen. Es unterstützt spezifisch historische Quellen wie Archivmaterial, historische Zeitungen und Collected Works. Die Integration mit Archivdatenbanken und die Fähigkeit, digitale Objekte mit Metadaten zu verwalten, machen es unverzichtbar. Elena Razlogova (2022) demonstriert die Integration von Zotero mit Obsidian für historisches Notetaking.
Obsidian ermöglicht zettelkastenbasiertes Wissensmanagement mit bidirektionalen Links und graphbasierten Visualisierungen. Für Historiker:innen bietet es die Möglichkeit, komplexe Beziehungen zwischen historischen Akteur:innen, Ereignissen und Konzepten zu modellieren. Die Markdown-basierte Struktur garantiert Langzeitarchivierung.
Citavi bleibt besonders im deutschsprachigen akademischen Kontext relevant. Die tiefe Integration mit deutschen Bibliothekskatalogen und die Unterstützung komplexer Zitierstile machen es für deutsche Dissertationen und Habilitationen attraktiv. Die Frankfurt University of Applied Sciences bietet umfassende Anleitungen für beide Systeme.
OMEKA fungiert als Brücke zwischen Personal Information Management und Public History. Jeffrey McClurken zeigt, wie OMEKA in der Lehre digitale Kurationskompetenzen vermittelt. Cameron Blevins betont die Rolle von OMEKA für digitale Ausstellungen und als Einführung in Metadaten-Standards (Dublin Core).
4.2 Programmierung und Web-Entwicklung für Historiker:innen
Das Online-Portal Programming Historian bietet über 50 peer-reviewed Tutorials speziell für Historiker:innen, von Einführungen in Python bis zu fortgeschrittener Netzwerkanalyse. Die Betonung liegt auf praktischen, historisch relevanten Beispielen statt abstrakter Programmierkonzepte.
Static Site Generators wie Jekyll und Hugo ermöglichen nachhaltige, zugängliche digitale Projekte nach Minimal Computing-Prinzipien (Gil & Risam, 2022). Diese Ansätze reduzieren technische Komplexität und garantieren Langzeitverfügbarkeit historischer Web-Projekte.
JavaScript-Bibliotheken bieten verschiedene Einstiegspunkte: TimelineJS für Anfänger:innen ermöglicht chronologische Visualisierungen ohne Programmierkenntnisse. Vis.js bietet fortgeschrittene Möglichkeiten für interaktive Netzwerk- und Zeitvisualisierungen.
Als neue Möglichkeit entwickelt sich zunehmend dynamisch das "Vibe-Coding", mit dem Historiker:innen ihre Befunde beispielsweise in WebApps übersetzen können.
4.3 Datenanalyse und Visualisierung
QGIS ist das führende Open-Source-GIS-System für historische Kartierung. Programming Historian bietet mehrere Tutorials zur historischen Geodatenanalyse. Die Integration mit historischen Basiskarten (David Rumsey Map Collection) ermöglicht eine zeitspezifische räumliche Analyse.
Gephi und Palladio sind spezialisierte Netzwerkanalyse-Tools. Gephi bietet fortgeschrittene Algorithmen für Zentralitätsmaße und Community-Detection. Palladio, entwickelt von Stanford's Humanities + Design Lab, ist optimiert für historische Daten mit unscharfen Zeitangaben.
Voyant Tools ermöglicht browserbasierte Textanalyse ohne Programmierkenntnisse. Die Visualisierung von Worthäufigkeiten, Kollokationen und Texttrends macht es ideal für explorative Analyse historischer Texte.
5. Infrastrukturen und institutionelle Verankerung
5.1 Deutsche Forschungsinfrastrukturen
DARIAH-DE (Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities) bietet zentrale Dienste für deutsche Digital Humanities. Der TextGrid Repository Service ermöglicht nachhaltige Publikation digitaler Editionen. Die Collection Registry dokumentiert digitale Sammlungen. Der Geo-Browser visualisiert raumzeitliche Daten.
CLARIN-D (Common Language Resources and Technology Infrastructure) fokussiert sich auf Sprachressourcen und -werkzeuge. Für Historiker:innen besonders relevant sind die OCR-Services für Fraktur und historische Drucke sowie die Integration mit Transkribus für Handschriften.
NFDI4Memory ist das Konsortium für historisch arbeitende Geisteswissenschaften in der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur. Es entwickelt Standards für historische Forschungsdaten, bietet Data Literacy Training und koordiniert zwischen verschiedenen Gedächtnisinstitutionen.
5.2 Universitäre Zentren und Studiengänge
Die Humboldt-Universität zu Berlin bietet seit 2019 einen MA Digital History mit Fokus auf digitale Geschichtswissenschaft. Der Lehrstuhl für Digital History (Prof. Dr. Torsten Hiltmann) erforscht maschinelles Lernen für mittelalterliche Handschriften und digitale Heraldik.
Die Universität Stuttgart hat ein starkes DH-Zentrum mit Schwerpunkt auf Visualisierung und Visual Analytics. Das VisUS-Projekt entwickelt Werkzeuge für unsichere und unvollständige historische Daten.
Das Göttingen Centre for Digital Humanities (GCDH) bietet BA und MA Digital Humanities mit historischem Schwerpunkt. Die TextLab-Initiative verbindet computergestützte Textanalyse mit Edition Sciences.
6. Kritische Perspektiven und Herausforderungen
6.1 Epistemologische Fragen
Andreas Fickers fordert "Hybrid Historians", die zwischen algorithmischen und hermeneutischen Ansätzen navigieren können. Das Konzept der "opaquen" digitalen Technologien hinterfragt die technologische Durchdringung historischer Praxis. Lara Putnam warnt vor dem "Transnational History Overreach" durch digitale Archive, die lokale Kontexte dekontextualisieren.
6.2 Laborsituation und Nachhaltigkeit
Quinn Dombrowski's Aufsatz " Minimizing Computing Maximizes Labor" (Digital Humanities Quarterly 2022) problematisiert die versteckte technische und emotionale Arbeit hinter "einfachen" digitalen Lösungen. Die Prekarisierung digitaler Arbeit in DH-Projekten und die Notwendigkeit nachhaltiger Karrierewege sind zentrale Herausforderungen.
Das Sustainability-Problem digitaler Projekte erfordert institutionelle Lösungen. Die " Guidelines for Evaluating Work in Digital Humanities and Digital Media" der Modern Language Association (2012) bieten Evaluationsrahmen für Tenure- und Promotion-Verfahren. Das RIDE-Journal (A Review Journal for Digital Editions and Resources, seit 2014) etabliert Qualitätsstandards für digitale Editionen und Ressourcen.
6.3 Zugänglichkeit und digitale Ungleichheit
Global Outlook::Digital Humanities (GO::DH) adressiert die ungleiche Verteilung digitaler Ressourcen. Die Minimal Computing Working Group entwickelt Ansätze für ressourcenlimitierte Kontexte. Vier Leitfragen strukturieren die Arbeit:
- What do we need?
- What do we have?
- What must we prioritize?
- What are we willing to give up?
7. Didaktische Perspektiven für die universitäre Lehre
7.1 Curriculare Integration
Die Integration von Digital History in geschichtswissenschaftliche Curricula erfordert gestufte Ansätze. Basiskompetenzen (digitale Quellenkritik, Datenmanagement) sollten in Einführungsveranstaltungen vermittelt werden. Fortgeschrittene Methoden (Programmierung, GIS, Netzwerkanalyse) in spezialisierten Seminaren.
Das Osnabrücker Modell mit der " DH-Werkstatt" der Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung bietet einen praxisorientierten Ansatz. Die drei Säulen – Personal Information Management, Web-Entwicklung, Datenanalyse (Wintersemester 2025/26) – decken essenzielle Kompetenzbereiche ab.
7.2 Projektbasiertes Lernen
History Harvests, bei denen Studierende lokale Geschichte digital dokumentieren, verbinden Community Engagement mit digitalen Kompetenzen. Das Osnabrücker Projekt zu digitalen Ausstellungen zeigt erfolgreiche Integration in reguläre Lehrveranstaltungen.
Digital History Labs ermöglichen experimentelles Lernen. Die Kombination von Methodenvermittlung und eigenen Forschungsprojekten fördert kritische Reflexion digitaler Tools.
7.3 Assessment und Evaluation
Die AHA Guidelines for Digital History Projects bieten Bewertungskriterien: Scholarly Contribution, Documentation, Community Engagement, Interface Design, Technical Quality. Shannon Matterns Frage "Could it have been done on paper?" als kritischer Reflexionspunkt für digitale Projekte bietet eine pragmatische Richtschnur.
Portfolios dokumentieren Lernfortschritte und reflektieren methodische Entscheidungen. Die Kombination traditioneller (Essays, Quellenanalyse) und digitaler (Visualisierungen, Datenbanken) Assessments ermöglicht umfassende Kompetenzbewertung. Es gibt also durchaus bereits erprobte Modelle für die Aufnahme von DH-Leistungen in den Regelbetrieb des Studiums.
Befund: Digital History als integraler Bestandteil moderner Geschichtswissenschaft
Digital History hat sich von einer technischen Hilfswissenschaft zu einem integralen Bestandteil geschichtswissenschaftlicher Forschung und Lehre entwickelt. Die Verbindung traditioneller hermeneutischer Ansätze mit computergestützten Methoden eröffnet neue Erkenntnismöglichkeiten und erfordert gleichzeitig kritische Reflexion über Methoden, Epistemologie und Ethik.
Die praktische Vermittlung digitaler Kompetenzen in der universitären Lehre ist essenziell für die nächste Generation von Historiker:innen. Dabei geht es nicht darum, alle zu Programmierer:innen auszubilden, sondern um die Vermittlung kritischer digitaler Literalität – die Fähigkeit, digitale Tools und Methoden reflektiert einzusetzen und ihre Ergebnisse kritisch zu hinterfragen.
Die Herausforderungen sind real: Fragen der Nachhaltigkeit, der digitalen Ungleichheit, der epistemologischen Grundlagen und der arbeitsökonomischen Realitäten müssen adressiert werden. Gleichzeitig bieten die Möglichkeiten der Digital History – von der Analyse massiver Textkorpora über die Visualisierung komplexer Netzwerke bis zur demokratisierten Zugänglichkeit historischer Quellen – enormes Potenzial für die Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft.
Die erfolgreiche Integration von Digital History in Forschung und Lehre erfordert institutionelle Unterstützung, nachhaltige Infrastrukturen und die Bereitschaft, traditionelle disziplinäre Grenzen zu überschreiten. Nur so kann die Geschichtswissenschaft die Chancen der digitalen Transformation nutzen und gleichzeitig ihre hermeneutische Tradition bewahren.
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