Digital History | NGHM

Prof. Dr. Christoph Rass
Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung
[IMIS] [SFB1604] [HistOS]

Digitale Geschichtswissenschaft @ Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung (NGHM)

Die  Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung (NGHM) am  Historischen Seminar der Universität Osnabrück (HistOS) bzw. am  Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) verbindet in Forschung und Lehre klassische geschichtswissenschaftliche Fragestellungen mit innovativen digitalen Methoden.

Unter der Leitung von  Prof. Dr. Christoph Rass hat sich die NGHM zu einem sichtbaren Akteur im Bereich der Digital History im deutschsprachigen Raum entwickelt. Wir streben nach einer engen Verzahnung von Forschung, Lehre und wissenschaftlichen Infrastrukturen, um die Potenziale digitaler Methoden kritisch, interdisziplinär und reflexiv für die Geschichtswissenschaft zu erschließen und an unsere Studierenden zu vermitteln.

Dieser Beitrag stelle exemplarisch Tätigkeitsfelder, Projekte und Publikationen in diesem Arbeitsbereich vor. 

Forschungsschwerpunkte: Digitale Methoden und Geschichtswissenschaft

Die Arbeitsgruppe NGHM versteht die Digitalisierung nicht als technisches Hilfsmittel, sondern als methodische und epistemologische Transformation der Geschichtswissenschaft. In den Projekten der Arbeitsgruppe werden digitale Technologien genutzt, um neue Perspektiven auf historische Quellen, Prozesse und Diskurse zu eröffnen.

Data-Driven History

Im Zentrum steht die datengetriebene Analyse historischer Massendaten. Das DFG-geförderte Projekt  Überwachung. Macht. Ordnung – Personen- und Vorgangskarteien als Herrschaftsinstrument der Gestapo" (Laufzeit 2017–2021, Leitung: Prof. Dr. Christoph Rass) hat gezeigt, wie die von analogen Verwaltungssystemen des 20. Jahrhunderts hinterlassenen Quellen durch Digitalisierung, KI-basierte Datenextraktion und GIS-Modellierung erschlossen und historisch ausgewertet werden können. Die Osnabrücker Gestapo-Kartei mit ca. 50.000 Karteikarten wurde erstmals vollständig digitalisiert und mit Methoden der Digital History analysiert. In Kooperation mit dem Niedersächsischen Landesarchiv und den Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht entstand eine digitale Replik, die tagesgenaue Rekonstruktionen der Überwachungs- und Repressionspraktiken ermöglicht.

Das vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur geförderte Projekt  Massendatenbasierte Langzeitmodelle migrationsinduziert wachsender Diversität im urbanen Kontext: Ausländermeldekarteien als Kulturgut und Grundlage reflexiver Migrationsforschung" (seit 2019, in Kooperation mit dem Niedersächsischen Landesarchiv und der Stadt Osnabrück) untersucht den migrationsinduziert wachsenden Wandel der Osnabrücker Stadtgesellschaft von 1930 bis 1981. Die Osnabrücker Ausländermeldekartei mit Informationen zu rund 70.000 Personen wurde unter Einhaltung daten- und archivrechtlicher Bestimmungen digitalisiert. Durch KI-basierte Datenextraktion, GIS-gestützte Prozessmodellierung und reflexive Migrationsforschung können Wege von Migrant:innen adressgenau verfolgt und differenzierte Analysen von Segregations- und Integrationsprozessen erstellt werden. Gleichzeitig macht die Datafizierung von Migration in solchen Karteien Praktiken administrativer Wissensproduktion über Migration sichtbar.

Diese Projekte untersuchen nicht nur historische Phänomene wie die Produktion sozialer Ordnung im NS-Staat oder kommunale Migrationsregimes, sondern reflektieren zugleich die Kulturtechnik Kartei als Medien administrativer Wissensproduktion.

Ein wichtiger Schritt in diesem Forschungsfeld ist die Kooperation mit der Arbeitsgruppe Mustererkennung der TU Dortmund (Prof. Dr. Gernot Fink). Gemeinsam publizierten wir 2025 das Paper „CM1 Dataset – Evaluating Few-Shot Information Extraction with Large Vision Language Models" (Fabian Wolf, Oliver Tüselmann, Arthur Matei, Lukas Hennies, Christoph Rass, Gernot A. Fink, in: ICDAR 2025). In dieser Zusammenarbeit trägt die Geschichtswissenschaft historische Quellen und Fragestellungen in die Entwicklung moderner KI-Modelle hinein – ein Beispiel für die wegweisende Verzahnung von Geschichtswissenschaft und Informatik.

Digitale Migrationsforschung und Digital Public History

Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der Verbindung von digitaler Methodik und Migrationsforschung. Im DFG-Sonderforschungsbereich 1604 „ Produktion von Migration" (seit April 2023, Laufzeit bis 2027) arbeitet die AG NGHM in mehreren Teilprojekten an der Schnittstelle von Diskursanalyse, Digital Humanities und Public History.

Das Teilprojekt A3 „ ›Ihr seid Gastarbeiterkinder!‹ Wissenschaft, Schule und die Produktion von Figuren der Migration" (Principal Investigators:  Prof. Dr. Christoph Rass,  Prof.in Dr.in Lale Yildirim) nutzt digitale Korpusanalyse und Verfahren der historischen Semantik, um die diskursive Hervorbringung migrationsbezogener Kategorien im Bildungssystem seit den 1960er Jahren zu untersuchen. Das Projekt analysiert ein umfangreiches Korpus von Publikationen, die zwischen Forschung und Schulpraxis verortet sind, und wendet Ansätze der historischen Semantik an, um Muster und Dynamiken der sprachlichen Produktion von Figuren der Migration zu identifizieren.

Im Transferprojekt T01 „ Reflexive Migrationsforschung im Museum. Potenziale und Perspektiven Virtueller Realitäten" (Principal Investigators:  Prof. Dr. Christoph Rass,  Prof.in Dr.in Lale Yildirim,  Prof.in Dr.in Julia Becker,  Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani, Koordination:  Annika Heyen, M.A.) verbindet die NGHM Forschung und Vermittlung in Kooperation mit dem  DOMiD (Köln). Es werden Anwendungen der Virtuellen Realität (VR) in Zusammenarbeit mit den Professuren für Geoinformatik und Didaktik der Informatik ( Prof. Dr. Michael Brinkmeier) der Universität Osnabrück entwickelt, die es Nutzer:innen ermöglichen, eigene Narrative zur Migrationsgeschichte zu gestalten. Werkzeuge wie der Exhibition Builder oder der Place Changer eröffnen partizipative Zugänge zu Erinnerungskulturen und verschieben die Deutungshoheit über Geschichte hin zu den Akteur:innen der Migrationsgesellschaft selbst.

Digitale Konfliktlandschaftsforschung und Public History

Die Arbeitsgruppe nutzt digitale Technologien auch zur Erforschung und Vermittlung von Gewalt- und Konfliktlandschaften. Das Projekt  Lernort ‚Schlachtfeld'? Neue Didaktik einer Konfliktlandschaft Hürtgenwald" verbindet geoarchäologische und fernerkundliche Methoden mit digitalen Ausstellungsformaten. Das Projekt  Mapping the Co-presence of Violence and Memory in Belarus" untersucht die Transformation von Gewaltorten in Belarus unter Einsatz von Satellitendaten und GIS-Methoden. Das Lehrforschungsprojekt  Die ‚Emslandlager' als Konfliktlandschaft in Transformation: Forschendes Lernen am Schnittpunkt von universitärer Lehrer:innenbildung, Gedenkstättenpädagogik und partizipativer digital public history" kombiniert universitäre Lehre mit Gedenkstättenarbeit und partizipativen digitalen Formaten.

Durch GIS, digitale Visualisierung, UAV-basierte LIDAR-Fernerkundung und Citizen-Science-Formate werden historische Räume und Erinnerungsorte neu erfahrbar. Zugleich ermöglichen diese Projekte eine kritische Reflexion über den Umgang mit Orten der Gewalt im digitalen Zeitalter und fördern die aktive Teilhabe der Öffentlichkeit an der historischen Wissensproduktion.

Epistemologie und Theorie der Digital History

Die Arbeit der NGHM ist nicht nur methodisch, sondern auch theoretisch geprägt. Prof. Dr. Rass und sein Team verstehen Digitale Geschichtswissenschaft als eine epistemologische Wende: Digitale Werkzeuge verändern nicht nur die Werkzeuge der Forschung, sondern wie Historiker:innen Fragen stellen, Daten erzeugen und Wissen validieren.

In methodenorientierten Texten und Blogbeiträgen auf nghm.hypotheses.org wird diese Perspektive kontinuierlich reflektiert. Zentral ist dabei die Forderung nach einer kritischen Quellenkritik des Digitalen – also der Analyse algorithmischer Strukturen, Datenmodellierungen und möglicher Verzerrungen (algorithmic bias). Die NGHM arbeitet damit an einem erweiterten Verständnis historischer Erkenntnis im digitalen Raum.

Lehre und Kompetenzaufbau

Die digitale Forschungspraxis der NGHM wird direkt in unsere Lehrveranstaltungen integriert. Mit dem Lehrformat  Digital History Workshop" bietet die Arbeitsgruppe eine praxisorientierte Einführung in die gesamte Bandbreite digitalhistorischer Methoden:

  • Personal Knowledge Management (z. B. Obsidian, Zotero)
  • Geoinformationssysteme (QGIS, ArcGIS)
  • Digitale Ausstellungen (OMEKA, StoryMaps)
  • 3D-Scanning und Virtual Reality
  • Künstliche Intelligenz und Datenanalyse

Diese Lehrformate vermitteln technische und methodische Kompetenzen und verankern digitale Geschichtswissenschaft als festen Bestandteil der historischen Ausbildung an der Universität Osnabrück. Ziel ist es, Studierende zu befähigen, digitale Methoden kritisch und kreativ in Forschung und Praxis einzusetzen.

Lehrveranstaltungen mit digitalen Methoden und Ergebnissen

In zahlreichen Lehrveranstaltungen der NGHM entstehen digitale Produkte, die öffentlich zugänglich sind – und damit explizit Lehre mit Digital History-Output verbinden:

Durch diese didaktische Praxis entstehen nicht nur technische Fertigkeiten, sondern unmittelbar sichtbare Produkte der Lehre – digitale Ausstellungen, die Forschung, Lehre und Öffentlichkeitsarbeit verbinden.

Strukturelle Verankerung und Ausblick

Unter der Leitung von Professor Dr. Christoph Rass engagiert sich die AG NGHM aktiv für den Aufbau nachhaltiger Infrastrukturen für Digital History an der Universität Osnabrück. Dazu gehören Initiativen zur Einrichtung eines universitären Centers for Digital Humanities and Social Sciences sowie Vorschläge für die Entwicklung eines Digital-Humanities-Zertifikats für Studierende. In Kooperation mit der Universitätsbibliothek Osnabrück (Direktorin: Felicitas Hundhausen) wurden bereits Werkzeuge wie der Publikationsserver „OsnaDocs" und das Forschungsdatenrepositorium entwickelt.

Dieses Engagement zielt darauf ab, DH-Fähigkeiten als Expertise nachhaltig institutionell zu verankern und dauerhaft in Forschung, Lehre und Wissenschaftskommunikation zu integrieren.

Ausgewählte Publikationen zur digitalen Geschichtswissenschaft

2025:

  • Fabian Wolf, Oliver Tüselmann, Arthur Matei, Lukas Hennies, Christoph Rass, Gernot A. Fink: CM1 - A Dataset for Evaluating Few-Shot Information Extraction with Large Vision Language Models, in: Yin, Xu-Cheng; Karatzas, Dimosthenis; Lopresti, Daniel (Hg.): Document Analysis and Recognition – ICDAR 2025, Part II, Cham 2025, S. 23-39.

2024:

  • Christoph Rass, Aliaksandr Dalhouski, Lukas Hennies: „Bandenbekämpfung" und „verbrannte Dörfer": Perspektiven der digitalen Geschichtswissenschaft auf Vernichtungskrieg und Besatzung in Belarus 1941–1944, in: Frèdèric Bonnesoeur, Florian Wieler u.a. (Hg.): Verbrannte Dörfer. Nationalsozialistische Verbrechen an der ländlichen Bevölkerung in Polen und der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, Berlin 2024.

2023:

  • Christoph Rass, Jeanine Wasmuth: Die Osnabrücker Ausländermeldekartei. Vom Karteigut zum Forschungsdatensatz, in: Archiv-Nachrichten Niedersachsen, 27/2023, S. 42-61.

2022:

  • Christoph Rass, Henning Borggräfe, Lukas Hennies: Geoinformationssysteme in der historischen Forschung. Praxisbeispiele aus der Untersuchung von Flucht, Verfolgung und Migration in den 1930er- bis 1950er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen 1/2022, S. 148-169.

2020:

  • Christoph Rass, Sebastian Bondzio: Next Stop Big Data? Erfahrungen mit der Digitalisierung von Geschichte und Geschichtswissenschaft, in: Paul Thomes, Tobias Dewes (Hg.): Vergangenheit analysieren – Zukunft gestalten (Aachener Studien zur Wirtschafts- Sozial- und Technologiegeschichte Band 20), Aachen 2020.

2019:

  • Christoph Rass, Sebastian Bondzio: Allmächtig, allwissend und allgegenwärtig? Die Osnabrücker Gestapo-Kartei als Massendatenspeicher und Weltmodell, in: Osnabrücker Mitteilungen 124/2019.

2018:

  • Christoph Rass, Sebastian Bondzio: Data Driven History – Methodische Überlegungen zur Osnabrücker Gestapo-Kartei als Quelle zur Erforschung datenbasierter Herrschaft, in: Archiv-Nachrichten Niedersachsen 22/2018.
Weitere Projekte

 Tödliche Zwangsarbeit in Karya [2023-2024]: Neben einem  Film wurde auch eine Panoee-Tour erstellt. Dieser virtuelle 360-Grad-Rundgang dokumentiert den Schauplatz Karya, die Spuren des Verbrechens und die Arbeit der Osnabrücker Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei den Feldforschungen. Der Rundgang ist in deutscher und griechischer Sprache unter  tour.panoee.net/karya verfügbar.

 Digitale Erschließung des Vernichtungsortes Maly Trostenez [2021-2022]: In einem trinationalen Projekt mit der Geschichtswerkstatt Leonid Levin in Minsk und der Universität Wien erarbeiteten Wissenschaftler:innen sowie Studierende aus Deutschland, Belarus und Wien eine  Omeka-Ausstellung, die seit 2022 online zur Verfügung steht.

 In Stein gemeißelt? - Digital erfahrbare Erinnerungsdiskurse im Stadtraum von Niedersachsen und Osteuropa [2022-2023]: Ein transnationales, digitales Ausstellungsprojekt zu materieller Erinnerungskultur des Seminars für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen, der Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung der Universität Osnabrück, der Fakultät für Geschichte und Philosophie der Universität Lettlands in Riga, der Geschichtswerkstatt Minsk und des Kulturerbes Niedersachsen. Die digitale Ausstellung findet sich unter  isg.gbv.de.

 Datenbank der deutschen militärischen und paramilitärischen Einheiten in Griechenland 1941-1944/45 [2019-2021]: Die Arbeitsgruppe NGHM beteiligte sich als Kooperationspartner in dem Projekt des  Institute of Historical Research/NHRF unter der Leitung von  Dr. Dr. Valentin Schneider mit dem Ziel, eine Datenbank („German Occupation Database") der deutschen Einheiten in Griechenland aufzubauen, welche ein nützliches Tool in der weiteren Erforschung der Besetzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg darstellen soll.

 PAN-history: Internationales Netzwerk Dokumentation, Analyse und Vermittlung der Transformation von Gewaltorten in partizipativen Citizen-Science Formaten [2023]: Im Zentrum des Projekts stand die Dokumentation von Denkmälern an die deutsche Besatzung Griechenlands mittels der App Pan-History, einer Eigenentwicklung des Instituts für Informatik der Universität Osnabrück. Gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur.

Fazit

Die Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung steht für eine konsequent reflexive, methodisch vielfältige und gesellschaftlich engagierte digitale Geschichtswissenschaft. Im Zusammenspiel von Datenanalyse, Künstlicher Intelligenz, Geoinformationssystemen, virtuellen Realitäten und partizipativen Formaten entwickelt die NGHM neue Wege, Geschichte zu erforschen, zu vermitteln und gemeinsam mit der Öffentlichkeit zu gestalten.

Damit möchte die AG NGHM dazu beitragen, die Digitalisierung als Chance zur Neuverortung der Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert zu nutzen – kritisch, innovativ und interdisziplinär.