KI und kritisches Denken | Ein pessimistischer Blick

Prof. Dr. Christoph Rass
Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung
[IMIS] [SFB1604] [HistOS]

Kritisches Denken in der KI-gestützten Geschichtswissenschaft - der pessimistische Blick.

Generative KI-Systeme als Herausforderung

Künstliche Intelligenz stellt die methodologischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft vor fundamentale Herausforderungen.

Generative KI-Systeme wie ChatGPT haben die Tendenz, historiografische Narrative zu produzieren, die oberflächlich plausibel erscheinen, aber systematisch historische Quellen „halluzinieren" und etablierte Prinzipien der Quellenkritik umgehen ( Puyt und Madsen 2024).

Diese Entwicklung erfordert eine dringende Neubestimmung des Verhältnisses zwischen traditioneller historisch-kritischer Methode und digitalen Werkzeugen.

  • Empirische Studien zeigen, dass der routinemäßige Einsatz von KI-Tools mit reduzierter kognitiver Aktivierung und vermindertem kritischem Denken in Zusammenhang stehen kann ( Gerlich 2025;  Kosmyna et al. 2025).
  • Gleichzeitig bieten mit KI-unterstützte Verfahren wie Named Entity Recognition, Topic Modeling und automatische Handschriftenerkennung erhebliche Potenziale für die Erschließung großer Quellenbestände.

Die American Historical Association hat im Juli 2025 mit ihren „Guiding Principles for Artificial Intelligence in History Education" erstmals umfassende Richtlinien für den Umgang mit KI in der geschichtswissenschaftlichen Lehre vorgelegt ( American Historical Association 2025). Dieser Beitrag zur Positionsbestimmung der  Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung der Universität Osnabrück diskutiert, wie die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft im Zeitalter generativer KI bewahrt und weiterentwickelt werden können, ohne die Potenziale digitaler Werkzeuge zu ignorieren.

Die historisch-kritische Methode als Fundament

Die moderne Geschichtswissenschaft konstituierte sich im 19. Jahrhundert durch die Entwicklung der historisch-kritischen Methode. Leopold von Rankes Forderung, Geschichte zu zeigen „wie es eigentlich gewesen", führte zur Entwicklung seiner systematischen Quellenkritik, die er 1824 in der Schrift  Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber ausarbeitete (Ranke 1824). Rankes „archival turn" etablierte die systematische Arbeit mit Primärquellen als Kernpraxis der Geschichtswissenschaft ( Eskildsen 2008).

Diese methodologische Innovation verlangte von Historiker*innen die kritische Prüfung der Authentizität, Entstehungsbedingungen und Überlieferungsgeschichte jeder Quelle – Prinzipien, die für die heutige Auseinandersetzung mit KI-generierten historischen Inhalten fundamentale Relevanz besitzen.

Johann Gustav Droysen präzisierte in seiner Historik die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft und entwickelte eine hermeneutische Methodik, die zwischen „Verstehen" und „Erklären" unterschied (Droysen 1977–2020;  Maclean 1982). Droysens Konzept der „verstehenden" Interpretation historischer Quellen betonte die Notwendigkeit, historische Akteure in ihren eigenen Kategorien und Handlungslogiken zu erfassen.

Diese hermeneutische Dimension historischer Arbeit – das kontextsensitive, kulturell informierte Verstehen vergangener Lebenswelten – stellt eine zentrale Grenze gegenwärtiger KI-Systeme dar, die auf statistische Musteridentifikation ohne genuine Kontextualverständnis angewiesen sind.

Ernst Bernheims Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie systematisierte diese frühen geschichtstheoretischen Ansätze zu einer umfassenden Methodenlehre, die zwischen Heuristik, Kritik und Interpretation als den drei Kernoperationen historischer Forschung unterschied (Bernheim 1908;  Ogrin 2012). Bernheims detaillierte Taxonomie von Quellengattungen und Prüfkriterien etablierte Standards, die bis heute in die Ausbildung von Historiker*innen hineinwirken.

Die Konfrontation dieser elaborierten methodologischen Tradition mit KI-Werkzeugen, die diese Schritte automatisieren oder umgehen, erzeugt erkenntnistheoretische Spannungen, die eine explizite Reflexion erfordern.

Katherina Kinzel hat gezeigt, dass sowohl Ranke als auch Droysen trotz unterschiedlicher politischer Positionen ein gemeinsames Ethos wissenschaftlicher Redlichkeit und methodischer Strenge vertraten, das die Identität der Geschichtswissenschaft als Disziplin konstituierte ( Kinzel 2020).

Dieses disziplinäre Ethos – die „Reputation für Vertrauenswürdigkeit" als „das wertvollste professionelle Asset" von Historikern – steht womöglich auf dem Spiel, wenn KI-Systeme historische Narrative generieren, ohne die methodischen Standards einzuhalten, die diese Vertrauenswürdigkeit begründen.

Hayden White und die narrative Konstruktion von Geschichte

Hayden Whites Metahistory (1973) markierte einen weiteren erkenntnistheoretischen Wendepunkt in der Reflexion über die narrative Struktur historischer Darstellung ( White 1973/1991/2014). White argumentierte, dass historische Narrative nicht einfach „die Fakten sprechen lassen", sondern durch rhetorische Strukturen präfiguriert werden – durch Tropologie (Metapher, Metonymie, Synecdoche, Ironie), Emplotment (Romanze, Tragödie, Komödie, Satire) und ideologische Positionen. Diese Einsicht, dass Geschichte immer auch eine Form literarischer Konstruktion ist, hat die Geschichtstheorie nachhaltig geprägt.

In The Content of the Form (1987) präzisierte White seine These, dass Narrativität selbst epistemologische Implikationen hat: „Die Frage der Narrative in der zeitgenössischen Geschichtstheorie" betrifft die Art und Weise, wie historische Ereignisse in kohärente, sinngebende Erzählungen transformiert werden ( White 1987;  White 1984).

Whites Analyse der narrativen Strukturierung als erkenntniskonstitutiver Prozess gewinnt neue Brisanz im Kontext generativer KI-Systeme, die auf der Grundlage statistischer Wahrscheinlichkeiten narrative Strukturen produzieren, ohne historische Evidenz zu berücksichtigen.

Large Language Models wie GPT-4 sind darauf trainiert, plausibel klingende Narrative zu generieren, nicht faktisch korrekte ( Leme Lopes 2023). Die Systeme reproduzieren narrative Konventionen, die sie aus Trainingsdaten extrahiert haben, und erzeugen damit Texte, die Whites Kategorien der Tropologie und des Emplotments folgen – jedoch ohne die methodische Verankerung in Quellenkritik und historischer Evidenz. Sie sind also primär auf sprachliche Plausibilität optimiert, nicht auf geprüfte Faktizität.

Dies führt zu einem paradoxen Effekt: KI-generierte historische Texte können formal überzeugender wirken als authentische historische Forschung, weil sie narrative Erwartungen perfekt erfüllen, während sie faktisch fehlerhaft oder vollständig erfunden sind.

Die erkenntnistheoretische Herausforderung liegt darin, dass Whites Dekonstruktion des Objektivitätsanspruchs historischer Narrative nicht zur Aufgabe von Faktizität und Evidenz führen ( Vann 1998). Vielmehr erfordert die gegenwärtige Situation eine Neujustierung: Wenn KI-Systeme mühelos überzeugende historische Narrative produzieren können, wird die methodische Verankerung in Quellenkritik und transparenter Evidenzführung umso wichtiger als Unterscheidungskriterium zwischen legitimer Geschichtsschreibung und bloßer narrativer Fiktion.

KI-Anwendungen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung

Die Geschichtswissenschaft nutzt computergestützte Verfahren bereits seit Jahrzehnten. Automatische Handschriftenerkennung (Optical Character Recognition, OCR), Named Entity Recognition (NER) undTopic Modeling sowie zahlreiche weitere digitale Verfahren gehören mittlerweile zum etablierten Methodenrepertoire digitaler Geschichtswissenschaft ( Cohen und Rosenzweig 2006).

Diese Werkzeuge erweitern die Kapazitäten historischer Forschung erheblich: Sie ermöglichen die Analyse großer Textkorpora, die für traditionelle close reading-Verfahren zu umfangreich wären, und erschließen Quellen, die aufgrund schwieriger Handschriften oder Sprachbarrieren bisher nur eingeschränkt zugänglich waren.

Jo Guldis Arbeiten zu Text Mining demonstrieren das Potenzial algorithmischer Verfahren für die Identifikation langfristiger historischer Trends und die Analyse von Diskursverschiebungen in großen Textsammlungen ( Guldi 2023;  Guldi 2024).

Computer Vision-Technologien erlauben die automatische Analyse von Layouts, Symbolen und Strukturen in historischen Bildern und Karten. Natural Language Processing (NLP) ermöglicht semantische Anreicherungen mit Normdaten und die automatische Zusammenfassung von Quellenkorpora.

Nun entsteht mit generativen KI-Systemen wie ChatGPT eine qualitativ neue Situation. Generative KI-Systeme produzieren nicht nur analytische Werkzeuge, sondern generieren selbst historiografische Inhalte – Erzählungen, Interpretationen, vermeintliche Quellenzitate.

Das American Historical Review-Forum „Artificial Intelligence and the Practice of History" (2023) identifizierte zentrale Probleme: KI-Systeme können keine genuine Quellenkritik leisten, reproduzieren systematisch Biases aus ihren Trainingsdaten und erzeugen „Halluzinationen" – erfundene Fakten, Quellen und Zitate, die mit hoher Autorität präsentiert werden ( Meadows und Sternfeld 2023;  Jones 2023).

Eine zentrale methodologische Herausforderung liegt in der Intransparenz der Systeme: LLMs operieren als „Black Boxes", deren Entscheidungsprozesse nicht nachvollziehbar sind. Während traditionelle statistische Verfahren transparent dokumentieren, welche Gewichtungen und Parameter ihre Ergebnisse bestimmen, entziehen sich die neuronalen Netzwerke generativer KI einer solchen Rechenschaftslegung. Dies steht im fundamentalen Widerspruch zum Transparenzgebot der Geschichtswissenschaft, das verlangt, dass jede Interpretation auf nachprüfbare Quellen zurückgeführt werden kann.

Die Royal Historical Society hat in ihrem aktuellen Reading Guide (September 2025) die Dringlichkeit betont, kritische Frameworks für den Umgang mit generativer KI in der Geschichtsforschung zu entwickeln ( Royal Historical Society 2025). Als besonders problematisch markiert der Bericht die Tendenz, dass KI-generierte Texte Autorität durch formale Perfektion suggerieren: Die Systeme produzieren grammatikalisch korrekte, stilistisch polierte Texte, die den Anschein wissenschaftlicher Seriosität erwecken, ohne die methodischen Standards wissenschaftlicher Arbeit zu erfüllen.

Cognitive Offloading und die Erosion kritischen Denkens

Empirische Studien zeigen, dass der routinemäßige Einsatz von KI-Tools zu einer Externalisierung kognitiver Prozesse führt, die für kritisches Denken zentral sind ( Gerlich 2025). Dieser Prozess des „Cognitive Offloading" – das Auslagern mentaler Operationen an externe Systeme – reduziert die Fähigkeit zur eigenständigen Problemlösung und analytischen Bewertung.

Wenn Studierende gewohnheitsmäßig ChatGPT zur Beantwortung historischer Fragen verwenden, trainieren sie nicht mehr die kognitiven Fähigkeiten, die für eigenständiges historisches Denken erforderlich sind: Quellenidentifikation, Kontextualisierung, Interpretation, Synthese.

Nataliya Kosmyna und Kollegen haben in ihrer Studie „Your Brain on ChatGPT" die neurokognitiven Effekte der KI-Nutzung untersucht ( Kosmyna et al. 2025). Die Forschung zeigt, dass kontinuierliche KI-Verwendung zu einer Akkumulation kognitiver Schulden führt: Nutzer verlieren schrittweise die Fähigkeit, komplexe Aufgaben ohne KI-Unterstützung zu bewältigen. Dieser Effekt ist besonders problematisch in der historischen Ausbildung, wo die Entwicklung analytischer Kompetenzen – die Fähigkeit, Quellen kritisch zu lesen, Argumente zu evaluieren, Evidenz zu gewichten – zentrale Bildungsziele darstellt.

Die didaktischen Implikationen sind gravierend: Wenn Studierende ihre Essays von ChatGPT schreiben lassen, umgehen sie nicht nur die Entwicklung schriftlicher Kompetenzen, sondern auch die tiefere kognitive Verarbeitung historischen Materials, die durch das eigenständige Formulieren von Argumenten und das Strukturieren von Narrativen entsteht.

"Schreiben" ist nicht nur ein Medium zur Kommunikation von Gedanken, sondern ein Medium des Denkens selbst, so eine der zentralen Einsichten der Writing Studies  (Bazerman 2016).

Michael Gerlichs Analyse betont, dass die Gefahr nicht in der Technologie selbst liegt, sondern in der unreflektierten Adoption von KI-Tools ohne parallele Entwicklung kritischer Kompetenzen im Umgang mit diesen Systemen ( Gerlich 2025). Die Geschichtswissenschaft muss daher nicht nur erforschen, wie KI eingesetzt werden kann, sondern auch, wie kritische KI-Literacy als neue Kernkompetenz historischer Ausbildung etabliert werden kann.

Tool Criticism als methodologische Praxis

Marijn Koolen, Jasmijn van Gorp und Jacco van Ossenbruggen haben mit ihrem Konzept der „Digital Tool Criticism" einen wichtigen Ansatz für die reflexive Auseinandersetzung mit digitalen Werkzeugen in den Geisteswissenschaften entwickelt ( Koolen, van Gorp und van Ossenbruggen 2019). Tool Criticism verlangt die systematische Untersuchung der epistemologischen Implikationen digitaler Tools: Welche Annahmen sind in die Gestaltung eines Tools eingebaut? Welche Fragen ermöglicht es, welche verstellt es? Wie transformiert das Tool die Objekte historischer Forschung?

Diese Perspektive lässt sich auf generative KI-Systeme erweitern. Eine kritische Evaluation von ChatGPT oder Claude als historische Werkzeuge muss folgende Dimensionen berücksichtigen:

  • Epistemologische Transparenz: Wie werden Antworten generiert? Auf welcher Datenbasis? Mit welchen Unsicherheiten?
  • Bias und Repräsentation: Welche historischen Narrative werden bevorzugt reproduziert? Welche Perspektiven werden systematisch ausgeblendet?
  • Methodische Kompatibilität: Sind die Operationen des Tools mit den Standards der historisch-kritischen Methode vereinbar?

Die Antworten auf diese Fragen fallen für gegenwärtige generative KI-Systeme überwiegend negativ aus.

  • LLMs operieren ohne Transparenz über ihre Datenquellen
  • LLMs reproduzieren systematisch dominante Narrative aus ihren Trainingsdaten
  • LLMs sind nicht in der Lage, genuine Quellenkritik zu leisten.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie vollständig nutzlos sind. Vielmehr müssen Historiker lernen, diese Tools selektiv und reflektiert einzusetzen – für bestimmte Aufgaben (z.B. Zusammenfassung bekannter Sachverhalte, Übersetzung, Formatierung), nicht aber für Aufgaben, die genuine historische Expertise erfordern (Quelleninterpretation, Kontextualisierung, Bewertung historiografischer Debatten).

Ein produktiver Umgang mit KI in der Geschichtswissenschaft erfordert daher die Entwicklung einer differenzierten Taxonomie von Anwendungsfällen:

  • Für welche Aufgaben sind KI-Systeme geeignete Werkzeuge?
  • Für welche sind sie fundamental ungeeignet?

Diese Unterscheidung ist nicht nur technisch, sondern zutiefst methodologisch: Sie betrifft das Verständnis dessen, was historische Forschung ausmacht und welche kognitiven Operationen durch technische Systeme ersetzbar sind.

Pädagogische Strategien für KI-Literacy

Die American Historical Association hat in ihren „Guiding Principles" (2025) zentrale pädagogische Empfehlungen formuliert ( American Historical Association 2025). Diese betonen die Notwendigkeit, kritische KI-Literacy als integralen Bestandteil historischer Ausbildung zu etablieren. Studierende müssen nicht nur lernen, historische Quellen zu interpretieren, sondern auch, KI-generierte Inhalte kritisch zu bewerten.

Konkret bedeutet dies:

  • Explizite Thematisierung der Grenzen von KI: Lehrveranstaltungen sollten systematisch demonstrieren, wo und wie KI-Systeme bei historischen Aufgaben versagen – durch gemeinsame Analyse von Halluzinationen, falschen Quellenzitaten und anachronistischen Interpretationen.
  • Training in Quellenkritik 2.0: Die traditionellen Fähigkeiten der Quellenkritik müssen erweitert werden um die Fähigkeit, KI-generierte Inhalte als eine spezifische Form „synthetischer Quellen" zu identifizieren und zu evaluieren.
  • Förderung epistemologischer Reflexion: Studierende sollten verstehen, warum historische Forschung nicht durch automatisierte Systeme ersetzt werden kann – nicht aus korporatistischer Interessenverteidigung, sondern aus genuine erkenntnistheoretischen Gründen.

Ein vielversprechender pädagogischer Ansatz besteht darin, KI-Systeme als Objekte historischer Kritik zu behandeln: Studierende analysieren ChatGPT-generierte historische Texte mit denselben Methoden der Quellenkritik, die sie auf traditionelle Quellen anwenden würden. Diese Übung demonstriert plastisch die Differenz zwischen plausibel klingenden Narrativen und methodisch fundierter Geschichtsschreibung.

Charles Bazerman hat gezeigt, wie das wissenschaftliche Schreiben als „social action" verstanden werden muss – als Teilnahme an epistemischen Gemeinschaften mit geteilten Standards der Evidenz und Argumentation (Bazerman 2016). KI-Systeme, die Texte produzieren, ohne Teil dieser epistemischen Gemeinschaft zu sein, gefährden die soziale Infrastruktur der Wissenschaft. Didaktische Strategien müssen daher nicht nur technische Kompetenzen vermitteln, sondern auch die Sozialisation in die Normen und Praktiken der Geschichtswissenschaft stärken.

Ausblick: KI und die Zukunft historischer Epistemologie

Die Konfrontation der Geschichtswissenschaft mit generativer KI erzwingt eine Reartikulation unserer disziplinären Identität.

Was macht historische Forschung aus, wenn Maschinen formal überzeugende historische Narrative produzieren können?

Die Antwort liegt nicht in der Verteidigung überholter Vorstellungen von Objektivität oder Faktizität, sondern in der Betonung der methodischen Rigorosität und epistemologischen Verantwortung, die genuine Geschichtsschreibung von bloßer Narration unterscheidet.

Rankes Quellenkritik, Droysens Hermeneutik, Bernheims Methodenlehre und Whites Narrativitätstheorie bleiben relevant: nicht als antiquierte Relikte, sondern als Instrumente der Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Wissensproduktion.

KI-Systeme zwingen die Disziplin, ihre impliziten Annahmen zu explizieren:

  • Was genau tun Historiker, wenn sie Quellen interpretieren? Welche kognitiven Operationen sind involviert?
  • Welche Formen des Wissens werden produziert?

Die produktive Integration von KI in die Geschichtswissenschaft erfordert eine stratifizierte Architektur des Wissens:

  • KI-Systeme können bei bestimmten technischen Aufgaben (OCR, NER, Datenvisualisierung) wertvolle Dienste leisten.
  • KI-Systeme können die interpretative, kontextualisierende Arbeit historischer Forschung aber nicht ersetzen.

Die Herausforderung besteht darin, diese Grenze nicht defensiv, sondern produktiv zu ziehen – in der Entwicklung neuer Formen hybrider Forschungspraktiken, in denen menschliche Expertise und maschinelle Verarbeitung komplementär zusammenwirken.

Die Royal Historical Society weist zu Recht darauf hin, dass die Debatte über KI in der Geschichtswissenschaft noch am Anfang steht ( Royal Historical Society 2025). Was gegenwärtig fehlt, sind nicht nur technische Lösungen, sondern konzeptuelle Frameworks, die es erlauben, die epistemologischen Transformationen zu verstehen, die durch KI ausgelöst werden.

Die Geschichtswissenschaft muss ihre eigene Epistemologie reflexiv weiterentwickeln – nicht gegen KI, sondern in kritischer Auseinandersetzung mit ihr.

Dies erfordert institutionelle Anstrengungen:

  • Förderung interdisziplinärer Forschung an der Schnittstelle von History, Science and Technology Studies und Critical AI Studies;
  • Entwicklung von Curricula, die KI-Literacy integrieren;
  • Einführung von Qualitätsstandards für KI-unterstützte geschichtswissenschaftliche Forschung.

Die Zukunft der Geschichtswissenschaft hängt davon ab, ob es gelingt, die methodischen Standards der Disziplin zu bewahren, während wir gleichzeitig die Potenziale neuer Technologien erschließen.

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