Was machen eigentlich Historiker*innen?

Prof. Dr. Christoph Rass
Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung
[IMIS] [SFB1604] [HistOS]

Was machen eigentlich Historiker*innen?

Vergangenheit rekonstruieren oder Narrative analysieren? Geschichtstheorie zwischen Objektivitätsanspruch und Machtkritik
Vorbemerkung: Zu diesem Text

Dieser Text versteht sich als theoretisches Positionspapier der Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung. Er entwickelt keine erschöpfende Methodologie, sondern markiert eine Haltung: Wie verstehen wir unsere Arbeit als Historiker*innen zwischen empirischer Rekonstruktion und machtkritischer Reflexion? Der Text richtet sich an Studierende, Promovierende und Kolleg*innen, die an ähnlichen Fragen arbeiten. Er lädt zur Diskussion ein, nicht zur Übernahme fertiger Antworten.

1. Problemstellung: Was heißt es eigentlich, „Vergangenheit“ historisch zu kennen?

Unsere Ausgangsfrage zielt auf die Grundspannung jeder Geschichtswissenschaft:

Arbeiten Historiker*innen an der Vergangenheit als solcher, also an einer materiellen, zeitlich abgeschlossenen Wirklichkeit, die es gegeben hat? Oder rekonstruieren sie notwendig nur Vorstellungen über Vergangenheit, also Deutungen, Narrative, Erinnerungen, diskursive Repräsentationen, wie sie sich in Quellen ablagern?

Diese Spannung ist nicht banal. Sie berührt den Status der Geschichtswissenschaft als Erkenntnispraxis: Ist sie eine Rekonstruktionswissenschaft des Gewesenen oder eine Analyse gegenwärtiger Sinnproduktionen über das Gewesene? Und wie strukturiert Macht diese Differenz?

Historiker*innen stehen immer zwischen zwei Polen:

  • Ontologischer Pol: Es gab eine Vergangenheit. Sie ist nicht beliebig, sondern sie hat reale Ereignisse, Körper, Gewalt, Handlungen, Institutionen hervorgebracht. Diese Vergangenheit hatte materielle Wirkungen (Menschen starben oder überlebten, Grenzen wurden gezogen, Eigentum wurde enteignet).
  • Epistemologischer Pol: Unser Zugang zu dieser Vergangenheit ist nur vermittelt durch Quellen, Erinnerungen, Archive, Narrative, materielle Relikte, statistische Spuren. Wir haben keinen unmittelbaren Zugriff darauf, „wie es wirklich war“, sondern nur auf Spuren, die gedeutet werden müssen.

Diese doppelte Struktur ist in der Geschichtstheorie seit dem 20. Jahrhundert ein Dauerkonflikt. Klassische Positionen, reflexive Positionen und postkoloniale Positionen setzen unterschiedliche Akzente. 

2. Klassische Rekonstruktionsposition: Vergangenheit als rekonstruierbare Faktizität

In der traditionellen Geschichtsauffassung, von Leopold von Ranke bis in weite Teile des Historismus, ist Geschichtswissenschaft ein Verfahren, die wirkliche Vergangenheit empirisch zu sichern. Ranke formulierte im Vorwort seiner „Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514“ (1824) das Programm, Historie solle zeigen, „wie es eigentlich gewesen“. Diese Formel wird später oft als naiv-objektivistisch missverstanden, ist aber methodologisch zu lesen: Es geht darum, möglichst quellennah, ohne moralische Teleologie, vergangene Zustände zu erfassen.

Diese Linie wirkt fort über historische Hilfswissenschaften, Quellenkritik, Archivarbeit, diplomatische und philologische Prüfung von Dokumenten. Die Grundidee: Quellen sind Zeugnisse. Wer sie korrekt kontextualisiert, datiert, vergleicht und kritisch befragt, kann eine belastbare Rekonstruktion historischer Abläufe formulieren.

Auch spätere Autor*innen halten daran fest, dass es so etwas wie historische Fakten gibt. E.H. Carr argumentiert 1961 in „What Is History?“ zwar gegen die Vorstellung, dass „Fakten einfach da draußen herumliegen wie Fische auf dem Fischmarkt“. Er insistiert, dass erst Historiker*innen durch Auswahl bestimmte „Fakten“ zu „historischen Fakten“ machen. Dennoch setzt er voraus, dass es ein Reservoir faktischer Vergangenheit gibt, das prinzipiell zugänglich ist. Die Vergangenheit ist nicht bloß Erzählung; sie hat stattgefunden.

Diese Position verteidigt eine minimale, aber zentrale Ontologie: Es gab Ereignisse. Manche Aussagen über diese Ereignisse sind wahrheitsnäher als andere. Kritische Quellenarbeit kann den Wahrheitsgehalt solcher Aussagen graduell erhöhen.

Ohne dieses Minimum kollabiert die Disziplin in Beliebigkeit.

Diese Sorge wird bis heute von Historiker*innen geäußert, die sich gegen ein radikal konstruktivistisches Verständnis verteidigen. Gerade in Feldern wie Gewaltgeschichte, Shoah-Forschung oder Kolonialgeschichte hat diese Rekonstruktionsposition eine moralische und politische Dimension: Wer sagt „es ist alles Narrativ“, öffnet Leugnung Tür und Tor.

3. Reflexive Kritik: Vergangenheit ist nie unmittelbar, sondern immer erzählt

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiebt sich die Aufmerksamkeit. Statt zu fragen „Was ist passiert?“, rückt stärker in den Mittelpunkt: Wie wird Vergangenes sinnvoll gemacht? Welche narrative, sprachliche, kulturelle, politische Arbeit steckt darin, aus verstreuten Spuren eine „Geschichte“ zu formen?

Paul Ricoeur argumentiert in „Memory, History, Forgetting" (2000/2004), dass historische Erkenntnis immer durch Erinnerung, Erzählung und Vergessen strukturiert ist. Erinnerung ist selektiv; Vergessen ist konstitutiv; Erzählung ordnet heterogene Spuren zu einem Sinnzusammenhang. Historiker*innen treten an, für die Vergangenheit zu sprechen, aber sie tun das in Formen, die auf narrative Kohärenz angelegt sind und deshalb nie „rein“ sind.

Hayden White argumentiert bereits in „Metahistory“ (1973), dass historische Darstellungen immer auf literarisch-rhetorischen „emplotments“ beruhen: Tragödie, Komödie, Romanze, Satire. Die Form der Erzählung strukturiert Sinn; es gibt keinen „ungeformten“ Bericht der Vergangenheit.

Im deutschsprachigen Raum ist diese Frage nach historischer „Sinnbildung“ systematisch ausgearbeitet worden von Jörn Rüsen. Rüsen spricht nicht nur von Geschichte als Rekonstruktion, sondern als Sinnbildungsprozess von Subjekten in der Zeit. Historisches Erzählen ordnet Vergangenheit so, dass Gegenwart verstehbar und Zukunft orientierbar wird. Rüsen identifiziert vier grundlegende Typen historischer Sinnbildung:

  • Traditional: Vergangenheit stiftet Kontinuität („So war es immer“).
  • Exemplarisch: Vergangenheit liefert allgemeine Regeln und Vorbilder („So soll man handeln“).
  • Kritisch: Vergangenheit wird zur Waffe gegen tradierte Sinnhorizonte („So darf es nicht weitergehen“).
  • Genetisch: Vergangenheit wird als offener Prozess gedacht; Wandel, Entwicklung, Kontingenz stehen im Zentrum („So ist es geworden, also kann es auch anders werden“).

Wichtig ist: Rüsen verschiebt den Fokus von der Frage „Ist das wahr?“ hin zur Frage „Welche Orientierungsleistung hat diese Erzählung?“ Historische Erkenntnis ist damit nicht nur Abbild der Vergangenheit, sondern Praxis der Gegenwartsorientierung durch Bezugnahme auf Vergangenes. Durch historisches Erzählen entsteht ein Sinngefüge, das Handeln in der Gegenwart ermöglicht und Zukunft antizipiert.

Die radikale Pointe: In dieser Perspektive ist „Vergangenheit“ niemals einfach ein neutraler Vorrat an Fakten. Sie tritt uns immer schon als erzählte, erinnerte, politisch funktionalisierte, moralisch aufgeladene Geschichte entgegen. Historiker*innen untersuchen also nie „die Vergangenheit pur“, sondern immer schon Bedeutungsproduktionen über Vergangenheit.

4. Macht, Ausschluss, Kolonialität: Michel-Rolph Trouillot und die Frage, wessen Vergangenheit „rekonstruiert“ wird

An diesem Punkt setzt auch eine postkoloniale und dekoloniale Kritik an, die das Problem verschärft – und sie ist für unsere Arbeit an der Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung der UOS zentral.

Michel-Rolph Trouillot argumentiert in „Silencing the Past: Power and the Production of History“ (1995), dass Geschichte nicht nur erzählt wird, sondern unter Machtverhältnissen produziert wird. Macht entscheidet aktiv, wer sprechen darf, wer archiviert wird, wer zitiert wird, wer als historisch relevant gilt – und wer verschwindet.

Trouillot zeigt das besonders eindrücklich am Beispiel der Haitianischen Revolution (1791–1804): eine der radikalsten antikolonialen Revolutionen der Neuzeit, in der versklavte Schwarze Menschen erfolgreich gegen die französische Kolonialherrschaft kämpften und einen souveränen Staat gründeten. Dass diese Revolution im westlichen historischen Kanon so lange marginalisiert blieb, ist für Trouillot kein Zufall, sondern Effekt von Macht, die bestimmte Ereignisse buchstäblich als „undenkbar“ macht.

Trouillot identifiziert vier Momente, an denen „Silencing“ – also das aktive Verstummenlassen bestimmter Perspektiven – in der Geschichtsproduktion auftritt:

  • Beim Entstehen von Spuren/Ereignissen (the moment of fact creation: the making of sources)
  • Bei der Archivierung/Sammlung (the moment of fact assembly: the making of archives)
  • Bei der Narration/Beschreibung durch Historiker*innen (the moment of fact retrieval: the making of narratives)
  • Bei der Kanonisierung/gesellschaftlichen Erinnerung (the moment of retrospective significance: the making of history in the final instance)

Diese Analyse ist eine Zumutung für jede naive Rekonstruktionshoffnung. Denn selbst wenn Historiker*innen „rekonstruieren“ wollen, rekonstruieren sie einen Bestand, der schon von Macht vorstrukturiert ist. Es gibt keine unschuldige Faktizität. Es gibt eine Archivlage, die koloniale Machtverhältnisse, Klassenausschlüsse, Geschlechterordnungen, rassistische Kategorisierungen bereits mitproduziert hat. Das Archiv ist also nicht neutraler Speicher, sondern Produkt sozialer Kämpfe.

Damit radikalisiert Trouillot auch das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Repräsentation: Historiker*innen arbeiten in kolonialen und postkolonialen Machtordnungen. Was als „Fakt“ gilt, ist niemals rein technisch, sondern immer schon politisch selektiert. Rekonstruktion ist damit nur scheinbar „unschuldig“; sie kann, wenn sie unreflektiert geschieht, koloniale und rassistische Silencings reproduzieren.

Diese Perspektive ist für Migrationsgeschichte, Kolonialgeschichte, Globalgeschichte, aber auch Regionalgeschichte (z. B. Zwangsarbeit, Displaced Persons, koloniale Arbeitsteilungen im lokalen Raum) unverzichtbar. Sie zwingt dazu, zwei Dinge zugleich zu tun:

  • Rekonstruieren (Wer war da? Wer arbeitete unter welchen Bedingungen? Wer starb? Welche materiellen Spuren sind da?)
  • Reflektieren, warum bestimmte Spuren fehlen, zum Schweigen gebracht wurden, nicht als „relevant“ galten oder aktiv vernichtet wurden – und wem das nutzt.

Ann Laura Stoler hat diese Perspektive in Along the Archival Grain (2009) methodisch präzisiert. Stoler fordert, Archive nicht nur „gegen den Strich“ zu lesen, sondern zunächst „entlang des Strichs“ – also die epistemischen Ängste, Unsicherheiten und Widersprüche kolonialer Verwaltung selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Archive sind für Stoler keine neutralen Informationsspeicher, sondern „fields of force“ – Kraftfelder, in denen koloniale Macht durch Kategorisierung, Klassifikation und Dokumentation ausgeübt wird. Gerade die Momente, in denen koloniale Beamte unsicher wurden, in denen ihre Kategorien nicht mehr funktionierten, offenbaren die Fragilität und Gewaltförmigkeit kolonialer Herrschaft.

Achille Mbembe erweitert diese Machtanalyse in Necropolitics (2019) um eine fundamentale Kritik der liberalen Demokratie selbst. Mbembe zeigt, dass westliche Demokratien einen „nächtlichen Körper“ haben – einen auf Ausschluss, Rassismus und der Produktion von „Feinden“ basierenden Mechanismus, der konstitutiv mit Kolonialismus, Sklaverei und Gewalt verbunden ist. „Necropolitics“ bezeichnet dabei die Macht, zu bestimmen, wer leben darf und wer dem Tod ausgeliefert wird. Diese Macht operiert nicht nur in historischen Kolonialregimen, sondern strukturiert auch gegenwärtige Migrations-, Grenz- und Sicherheitspolitiken. Für die Geschichtswissenschaft bedeutet dies: Wer über Migration, Zwangsarbeit, Flucht oder Displaced Persons forscht, bewegt sich notwendigerweise in den Nachwirkungen dieser necropolitischen Ordnungen.

5. Zusammenschau: Sinn, Erfahrung, Macht

Wenn wir klassische deutschsprachige Theorie (Koselleck, Rüsen) mit der dekolonialen Kritik (Trouillot) zusammendenken, öffnet sich ein produktiver Möglichkeitsraum für Historiker*innen.

Reinhart Koselleck hat in seiner Begriffsgeschichte gezeigt, dass historische Grundbegriffe (z.B. „Revolution“, „Fortschritt“, „Staat“) keine zeitlosen Bezeichnungen sind, sondern Kampfplätze der politischen Semantik, die sich besonders zwischen ca. 1750 und 1850 (der sogenannten „Sattelzeit“) tiefgreifend wandelten.

Diese Begriffsgeschichte offenbart, dass schon die Sprache, mit der Vergangenheit beschrieben wird, eine historische Tiefenstruktur hat. Wer heute „Revolution“ oder „Migration“ sagt, operiert in langen Schichten politischer Semantisierung. Damit ist klar: Auch die Beschreibung der Vergangenheit ist selbst historisch situiert und nicht neutral.

Rüsen wiederum insistiert, dass historisches Erzählen immer eine Orientierungsleistung für Gegenwart und Zukunft darstellt. Das ist wichtig – und zugleich ein Risiko. Denn wenn historische Erzählungen Orientierung stiften, dann stiften sie notwendigerweise auch Normen: Wer gehört dazu? Wer ist erinnerungswürdig? Wer ist „unsere“ Vergangenheit? Das kann exkludierend sein.

Trouillot zwingt uns, diese Hoffnung nicht zu romantisieren. Denn auch „kritisches Erzählen“ (im Sinne Rüsens) kann Ausschlüsse stabilisieren, wenn es koloniale Subjekte weiterhin als „Objekte der Geschichte“ und nicht als historische Akteure adressiert. Das heißt:

  • Geschichtsbewusstsein (im Rüsenschen Sinn) ist nicht nur der „Prozess der Sinnbildung über Zeiterfahrung“, sondern immer schon situiert in Machtordnungen.

Die Frage lautet nicht nur „Welche Sinnmuster verwenden wir?“, sondern „Wessen Sinnmuster werden hegemonial?“ und „Wessen Erzählungen gelten als glaubwürdig, archivierbar, zitierfähig?“.

Eine zeitgenössische Geschichtstheorie profitiert also davon, Rüsen und Trouillot zusammendenken:

  • Ja, historische Erkenntnis bedeutet sinnbildendes Erzählen (Rüsen).
  • Aber: Sinnbildung ist ein Feld sozialer, kolonialer, rassistischer, klassenspezifischer Macht (Trouillot).

Also: Reflexivität ist nicht nur Selbstbespiegelung akademischer Subjektivität, sondern politisch-ethische Pflicht, die Frage „Wer darf Geschichte machen?“ mitzudenken.

Die zeitgenössische deutschsprachige Geschichtsdidaktik hat diese Herausforderungen aufgegriffen und weiterentwickelt. In der aktuellen Debatte um Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur und Public History wird deutlich, dass die klassischen Konzepte der Sinnbildung (Rüsen) unter den Bedingungen von Postkolonialismus, Digitalisierung und gesellschaftlicher Diversität neu kalibriert werden müssen. Die Frage „Wessen Sinn wird gebildet?“ und „Wer darf legitimerweise Geschichte erzählen?“ steht dabei im Zentrum. Public History wird zunehmend nicht mehr als bloße Vermittlung verstanden, sondern als partizipatorische Praxis, in der verschiedene Erinnerungsgemeinschaften und marginalisierte Perspektiven sichtbar werden können – und müssen.

6. Die geschichtswissenschaftliche Praxis der Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung
  • Rekonstruktion bleibt unverzichtbar – aber sie ist nicht unschuldig

Gerade in Feldern wie NS-Geschichte, Kolonialverbrechen, Sklaverei, sexualisierte Gewalt, Zwangsarbeit, Migrationsregime ist es notwendig und ethisch geboten, die materielle Vergangenheit zu rekonstruieren: Wer war Opfer welcher Gewalt? Wer profitierte? Welche Behörden waren involviert? Das ist nicht „nur Narrativ“, sondern betrifft reale Körper, reale Tode, reale Enteignungen.

Diese Verpflichtung zur Rekonstruktion wird oft gegen „postmoderne Beliebigkeit“ ausgespielt. Das ist aber ein Missverständnis. Weder Ricoeur noch Trouillot leugnen, dass etwas geschehen ist. Trouillot sagt sehr deutlich: Geschichte bedeutet immer beides – „what happened“ und „what is said to have happened“ –, und die beiden Dimensionen lassen sich nicht trennen, aber auch nicht identisch setzen.

  • Quellenkritik heißt auch: Archivkritik

Die klassische Quellenkritik (Entstehungskontext, Überlieferungssituation, intendiertes Publikum) muss um eine Machtkritik der Überlieferung erweitert werden:

  • Warum gibt es in deutschen Kommunalarchiven oft lückenlose Akten zu Verwaltung, Polizei, Planung – aber kaum zu migrantischen Selbstorganisationen?
  • Warum sind Stimmen von Kolonisierten, Zwangsarbeiter*innen, Geflüchteten, Care-Arbeiter*innen im Alter oft nur als Objekte der Bürokratie greifbar, nicht als selbst sprechende Subjekte?

Das ist nicht zufällig, sondern Ergebnis dessen, was Trouillot als „Silencing“ bezeichnet: An vier Stufen der Geschichtsproduktion werden Stimmen ausgeschlossen oder marginalisiert; dieser Ausschluss setzt sich dann in der späteren „Rekonstruktion“ fort, sofern Historiker*innen ihn nicht aktiv adressieren.

  • Narrative Verantwortung

Wenn – mit Rüsen – historisches Erzählen Orientierung produziert, dann tragen Historiker*innen Verantwortung für die gesellschaftlichen Folgen ihrer Narrative:

  • Erzähle ich Migration als „Problemgeschichte“ oder als konstitutive Normalität moderner Gesellschaften?
  • Erzähle ich Zwangsarbeit als Randthema der NS-Geschichte oder als Kernbestand nationalsozialistischer Herrschaftspraxis?
  • Erzähle ich die Haitianische Revolution als „abweichende Episode“ oder als zentralen Knoten der globalen Moderne?

Diese Entscheidungen sind nicht bloß rhetorisch, sondern normativ: Sie definieren, wer als handelndes Subjekt historischer Prozesse sichtbar wird.

  • Ein Beispiel: Displaced Persons im Emsland

Die hier entwickelte „Doppelbewegung“ lässt sich an einem konkreten Forschungsfeld der Arbeitsgruppe verdeutlichen: der Geschichte der Displaced Persons (DPs) im Emsland nach 1945.

  • Rekonstruktiv-empirisch bedeutet hier: Wir arbeiten mit Akten der britischen Besatzungsverwaltung, der International Refugee Organization, mit Lagerlisten, Transportdokumenten, Versorgungsakten. Wir rekonstruieren, wer in welchen Lagern untergebracht war, unter welchen materiellen Bedingungen Menschen dort lebten, welche Selbstorganisationsformen entstanden, wann und wohin Weiterwanderungen erfolgten. Diese Rekonstruktion ist nicht „nur Narrativ“ – Menschen haben real in diesen Lagern gelebt, sind real weitergewandert oder geblieben, haben real Familien gegründet oder verloren.
  • Reflexiv-machtkritisch bedeutet aber zugleich: Wir fragen, warum die Quellenlage so ist, wie sie ist. Warum gibt es umfangreiche Verwaltungsakten der Besatzungsmächte und der Hilfsorganisationen, aber kaum Selbstzeugnisse der DPs selbst? Warum erscheinen DPs in den Akten fast ausschließlich als administrative Probleme – als zu versorgende, zu kontrollierende, zu verteilende Massen? Warum fehlen ihre Stimmen, ihre Perspektiven auf das Geschehene, ihre eigenen Deutungen ihrer Situation?

Die Antwort liegt in dem, was Trouillot als „Silencing“ beschreibt: DPs galten als vorübergehendes Problem, als Objekte der Fürsorge und Kontrolle, nicht als Subjekte mit eigener Handlungsmacht und eigener historischer Bedeutung. Dass ihre Selbstzeugnisse nicht systematisch gesammelt wurden, dass ihre Briefe, Tagebücher, Erinnerungen nicht als archivwürdig galten, ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Machtordnung, die entschied, wessen Geschichte bewahrenswert ist.

Eine reflektierte Geschichtswissenschaft muss beides tun: die vorhandenen Quellen nutzen, um die materielle Realität der DP-Lager zu rekonstruieren – und zugleich die Leerstellen, das Schweigen, die Abwesenheit von Stimmen als historisches Problem ernst nehmen und benennen.

7. Fazit: Was können Historiker*innen „eigentlich“ tun?

Historiker*innen können sich nicht aus der Welt stehlen und so tun, als würden sie „die Vergangenheit an sich“ direkt sprechen lassen. Jede Quelle ist bereits vermittelt, jede Auswahl ist schon Interpretation, jede Erzählung eine Form von Sinnstiftung.

Gleichzeitig ist es falsch – und politisch gefährlich –, daraus den Schluss zu ziehen, die materielle Vergangenheit sei egal oder unzugänglich. Menschen starben wirklich in Lagern. Menschen wurden wirklich versklavt. Menschen wurden wirklich deportiert. Diese Materialität ist nicht bloß Diskurs. Sie verpflichtet zur Rekonstruktion. Hier knüpft die klassische Quellenkritik an, hier knüpfen empirische Studien an, hier knüpft auch die moralische Dimension historischer Forschung an.

Die Aufgabe einer zeitgenössischen, reflektierten Geschichtswissenschaft ist deshalb doppelt:

  • Rekonstruktiv-empirisch: Möglichst präzise, quellengesättigte, kontextsensible Rekonstruktionen vergangener Praktiken, Strukturen, Erfahrungen.
  • Reflexiv-machtkritisch: Analyse der Bedingungen, unter denen bestimmte Erfahrungen überliefert wurden oder eben nicht; Sichtbarmachen der „Silencings“ in den Archiven; Offenlegen der eigenen narrativen Entscheidungen und ihrer Gegenwartswirkungen.

Diese Doppelbewegung markiert den Punkt, an dem klassische Geschichtsphilosophie, die deutsche Tradition der Sinnbildungstheorie und postkoloniale Kritik sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich gegenseitig notwendig machen:

  • Ohne Rüsen wüssten wir nicht, dass jede historische Darstellung auch ein Identitäts- und Orientierungsangebot produziert.
  • Ohne Ricoeur hätten wir nicht den präzisen Begriff dafür, dass Erinnerung immer schon Filter ist, nie reines Fenster.
  • Ohne Trouillot würden wir die Machtdimension dieser Filter unterschätzen – wer überhaupt als erinnerbar gilt und wer systematisch verstummt wird.
  • Und ohne die minimale realistische Rest-Behauptung der klassischen Rekonstruktionshistoriker*innen würden wir riskieren, dass historische Gewalt als „nur erzählt“ relativiert werden kann.

Das heißt: Historiker*innen befassen sich notwendigerweise mit beidem – mit Spuren einer materiell-realen Vergangenheit UND mit den Ideen, Erzählungen, Silencings, durch die diese Vergangenheit überhaupt erst als „Vergangenheit“ sichtbar wird.

Eine Geschichtswissenschaft, die nur eines von beiden tut, ist epistemisch und politisch defizitär.


Literaturverzeichnis

Barricelli, Michele/Yildirim, Lale (Hg.): Geschichtsbewusstsein – Geschichtskultur – Public History. Ein spannendes Verhältnis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 33).

Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bände in 9 Teilbänden, Stuttgart: Klett-Cotta 1972-1997.

Carr, Edward Hallett: What Is History? George Macaulay Trevelyan Lectures Delivered in the University of Cambridge January–March 1961, London: Macmillan 1961; 2. Auflage, London: Penguin 1987.

Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979.

Mbembe, Achille: Necropolitics, Durham: Duke University Press 2019. [Originalfassung: Politiques de l'inimitié, Paris: La Découverte 2016]

Ranke, Leopold von: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig/Berlin: Reimer 1824.

Ricoeur, Paul: Memory, History, Forgetting, Chicago: University of Chicago Press 2004.

Rüsen, Jörn: Die vier Typen des historischen Erzählens. In: Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung, München: dtv 1982, S. 514-605; wiederabgedruckt in: Jörn Rüsen: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 153-230.

Stoler, Ann Laura: Along the Archival Grain: Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton: Princeton University Press 2009.

Trouillot, Michel-Rolph: Silencing the Past: Power and the Production of History, Boston: Beacon Press 1995; 20th Anniversary Edition mit Foreword von Hazel V. Carby, Boston: Beacon Press 2015.

White, Hayden: Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1973; deutsche Übersetzung: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M.: Fischer 1991.