Vergangene Wettbewerbe

Fall: Das Rückführungsturbogegesetz

In der Bundesrepublik ist der Umgang mit der sogenannten „Migrationskrise“ ein immer wiederkehrendes Streitthema. Anlass für die aktuelle Kontroverse ist ein Bericht der B-Zeitung, demzufolge sich angeblich eine enorm hohe Anzahl ausreisepflichtiger Ausländer in der Bundesrepublik aufhalte, jedoch jedes Jahr nur wenige tausend Ausreisepflichtige abgeschoben würden. In den Folgemonaten werden die Forderungen, die Bundesregierung möge etwas dagegen unternehmen, immer lauter. Insbesondere die A-Fraktion im deutschen Bundestag fordert vehement Abschiebungen im großen Stil. Schließlich verspricht der Bundesinnenminister in einem Interview, man werde konsequenter und schneller abschieben. Kurz darauf wird im Bundestag das - formell verfassungsmäßige - „Rückführungsturbogesetz“ zur Erleichterung und Verbesserung der Abschiebungen aus Deutschland beschlossen. Asylverbände sind besonders über zwei Neuerungen schockiert: § 58 Abs. 5 AufenthG wurde um folgenden Satz 2 erweitert:

In Formen gemeinschaftlicher Unterbringung gilt Satz 1 auch für die Wohnung anderer Personen sowie für gemeinschaftlich genutzte Räumlichkeiten.

Darüber hinaus wurde die maximale Dauer des Abschiebegewahrsams gem. § 62b AufenthG von 10 auf 28 Tage erhöht. Die Bundesregierung meint, dies sei erforderlich, um die behördliche Organisation von Abschiebungen zu erleichtern. In viele Länder bestünden nur seltene Flugverbindungen und es sei für Abzuschiebende ein Leichtes, sich kurz vor den Flugzeiten dem Zugriff der Behörden zu entziehen. An sich bestehende und vollstreckbare Ausreisepflichten könnten so über lange Zeit nicht durchgesetzt werden, während die Behörden immer wieder umsonst Geld und Zeit in die Organisation der Abschiebungen stecken müssten. Es werde nicht nur die öffentliche Sicherheit durch die andauernde Verletzung der Ausreisepflicht geschädigt, es stehe auch das Funktionieren der Ausländerbehörden und damit des Staates selbst auf dem Spiel.

Die Nichtregierungsorganisation FürSchutz sieht in beiden Neuerungen eklatante Grundrechtsverletzungen. Als gäbe es in Flüchtlingsunterkünften nicht ohnehin schon kaum Rückzugsmöglichkeiten, würde die Neuerung in § 58 Abs. 5 S. 2 AufenthG nun dazu führen, dass man sich selbst in seinem eigenen Zimmer nicht mehr wohlfühlen könne, wenn man permanent damit rechnen müsse, dass die Polizei hereinplatzt, um eine ausreisepflichtige Person zu finden. Außerdem meint sie, der Gesetzgeber kenne wohl Artikel 13 GG nicht, anders könne sie sich jedenfalls nicht erklären, warum dessen Vorgaben ihrer Meinung nach völlig missachtet wurden. Was den Abschiebegewahrsam angehe, sei dieser an sich schon verfassungswidrig. Vollkommen Unschuldige dürften nicht einfach inhaftiert werden, damit der Behörde die Organisation vereinfacht werde. Dass die Ausweitung des Zeitraums auf 28 Tage zudem völlig unverhältnismäßig sei, könne ihrer Meinung nach gar nicht ernsthaft zur Debatte stehen.

In der Gemeinschaftsunterkunft in der niedersächsischen Stadt O kommt es schon bald zu ersten Anwendungsfällen des Gesetzes:

Der nigerianische Staatsangehörige A bewohnt dort ein Einzelzimmer. Vor seiner Flucht hat er als Vorschullehrer gearbeitet. In der Unterkunft kümmert er sich deshalb um die Kinder anderer Bewohner, insbesondere um N, den fünfjährigen Neffen der B, einer guten Freundin des A, die gemeinsam mit N im Nachbarzimmer wohnt. Da B nicht gut Deutsch spricht, hilft A ihr oft bei Behördengängen. In diesem Zuge hatte A erklärt, wenn die Behörde Schwierigkeiten mit B habe, sei er gerne bereit zu helfen. Die Behörde könne ihn immer ansprechen. Dies ist sowohl der Ausländerbehörde als auch der Leitung der Unterkunft bekannt.

B ist vollziehbar ausreisepflichtig. Die zuständige Ausländerbehörde teilt ihr mit, dass ihre rechtmäßige Abschiebung für den 28.02. geplant ist. Am Tag der Abschiebung treffen die Beamten sie jedoch nicht in ihrem Zimmer an. Kurz Entschlossen wenden sich die beiden dem Zimmer des A zu. In diesem hält sich auch der N auf, der von A betreut wird. Die Anwesenheit des N kann man trotz geschlossener Tür schon vom Flur aus vernehmen, da N laut weint, weil er gerade von A erfahren hat, dass seine Tante abgeschoben wird. Dennoch betreten die Beamten das Zimmer des A und durchqueren es, um hinter den an der Wand stehenden Schrank blicken zu können. Da sie B nicht vorfinden, verlassen sie das Zimmer wieder.

A ist außer sich. Nicht nur, dass die Beamten sein privates Einzelzimmer durchforstet haben, obendrein hätten sie auch den zutiefst verängstigten N nur noch weiter verstört. Es könne nicht angehen, dass Polizisten durch sein Zimmer stürmen, nur weil es zufällig neben dem der B liege. Die Behörde entgegnet, das Rückführungsturbogesetz räume den Beamten das Recht ein, Zimmer Dritter zu betreten. Eine Durchsuchung habe nicht stattgefunden. Es sei typisch, dass abzuschiebende Personen „zufällig“ die Zeit vor ihrer Abschiebung im Nachbarzimmer verbringen. Außerdem sei ja allseits bekannt, dass A ein guter Freund der B und des N sei und diesen regelmäßig helfe. Dass sich B im Zimmer des A aufhalte, sei also nur naheliegend gewesen.

A hat sich von dem Schock noch nicht erholt, als auch er selbst kurze Zeit später mit dem Rückführungsturbogesetz in Berührung kommt:

Auch er ist ausreisepflichtig, seine Ausreisefrist hat er verstreichen lassen. Gegenüber der Behörde hat er mehrfach betont, nur unter Zwang nach Nigeria zurückkehren zu wollen. Im Fall der Fälle wisse man ja, wo er zu finden sei. Die Behörde entscheidet, A und 120 nigerianische Staatsangehörige mit einem einzigen Flug am 30.03. nach Nigeria abzuschieben. Da aufgrund internationaler Verwicklungen nur noch wenige Flüge im Monat von Deutschland nach Nigeria stattfinden, verursacht die Sammelabschiebung einen großen organisatorischen Aufwand. Um einen Fehlschlag zu vermeiden, entscheidet die Behörde, alle abzuschiebenden Personen bereits am 10.03. in Gewahrsam zu nehmen. Auch A wird inhaftiert. Am 25.03. wird der Behörde bekannt, dass der Flug aufgrund eines Streiks des Bodenpersonals nicht durchführbar ist. Sie entlässt daraufhin A und alle anderen Betroffenen der Sammelabschiebung umgehend aus der Haft.

A kann nicht glauben, dass es rechtmäßig sein soll, erst in seine Wohnung einzudringen, und ihn dann für zwei Wochen einfach „einzukerkern“, ohne dass er etwas verbrochen habe, nur, damit für die Behörde die Organisation vereinfacht werde. Er beschreitet deshalb gegen beide Maßnahmen den Rechtsweg. Nachdem dies erfolglos ist, erhebt er gegen das letztinstanzliche Urteil Verfassungsbeschwerde. Vor dem BVerfG werden beide Verfahren analog § 66 BVerfGG zu einer mündlichen Verhandlung verbunden. In der mündlichen Verhandlung soll sich auch das Land Niedersachsen äußern.

 

Aufgabe:

1. A beauftragt Sie damit, ihn in der mündlichen Verhandlung am 20. und 21. Juni vor dem Bundesverfassungsgericht zu vertreten.

2. Sie sollen als Vertreter des Landes Niedersachsen in derselben Verhandlung für diese Stellung nehmen.

Bearbeitungsvermerk:

Es ist davon auszugehen, dass das Rückführungsturbogesetz nicht gegen Unionsrecht verstößt und alle Tatbestandsvoraussetzungen der gesetzlichen Grundlagen vorliegen. [1]

 


 [1] letzterer Vermerk wurde aufgrund mehrfacher Teilnehmernachfragen ergänzt. So soll verhindert werden, dass die Teilnehmer eine Verfassungswidrigkeit an einem fehlenden Richtervorbehalt festmachen.

Fall: Das letzte Dorf

Seit Monaten wird in der Bundesrepublik kontrovers über den Kohleausstieg diskutiert. Die Bundesregierung hält ein Festhalten an der Braunkohle für unverzichtbar, um die Stromversorgung des Landes zu gewährleisten, dies gelte insbesondere seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine und den damit zusammenhängenden Engpässen. Klimaschützer:innen sind hingegen angesichts der zunehmenden Bedrohung durch den Klimawandel über dieses Vorhaben entsetzt. Dass nun auch noch das niedersächsische Dorf Gallien für den Kohleabbau „platt gemacht“ werden soll, bringt das Fass für viele von ihnen zum Überlaufen. Der Ort war, anders als die Nachbarorte, bislang vom Kohleabbau verschont geblieben. Die Aktivistin A will das alles nicht einfach hinnehmen: Sie ist der Meinung, die Zeit für Plattitüden sei vorbei und man müsse zum Handeln übergehen. Sie belässt es deshalb nicht bei der Organisation einer Demonstration. Inspiriert von einer Taktik, über die sie in der Zeitung erfahren hat, plant sie gemeinsam mit zwei anderen Aktivist:innen Folgendes: Die drei wollen auf dem Hinweg zur Demonstration einen besonderen Zwischenstopp direkt auf der Autobahn einlegen und diesen nutzen, um sich dort festzukleben und so den Verkehr zu blockieren. Sie erhoffen sich von dieser Aktion, dass sie die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird und das eigentliche Anliegen, der Klimaschutz und der Stopp des Kohleabbaus, so die breite Öffentlichkeit erreicht. Als A und ihre Mitstreiter:innen die Autobahn betreten, müssen zwar einige Autofahrer:innen ausweichen, doch noch bevor A den Sekundenkleber auspacken kann, sind einige Polizist:innen zur Stelle und tragen sie weg. A ist erzürnt: Auch ziviler Ungehorsam müsse in solch dramatischen Zeiten ja wohl grundrechtlich geschützt sein und die Versammlungsfreiheit sei sowieso ein hohes Gut. Die Polizei ist ganz anderer Meinung: Zum einen habe es sich doch noch gar nicht um die eigentliche Versammlung gehandelt. Zum anderen hätten A und die anderen Aktivist:innen andere Verkehrsteilnehmer:innen und nicht zuletzt sich selbst durch ihr Verhalten erheblich gefährdet. A kann über solche Argumente nur den Kopf schütteln: Ob sie sich selbst gefährde oder nicht, gehe den Staat ja wohl gar nichts an.

A ist nicht die Einzige, die Widerstand gegen den Kohleabbau leistet: Bauer B hat in dem geplanten Abbaugebiet seinen Bio-Bauernhof. Bis zuletzt ist er Abkaufangeboten von Seiten des Staates und der Energiekonzerne gegenüber standhaft geblieben. Er ist davon überzeugt, dass die klimaschädliche Kohle keine Zukunft hat und für diese nicht noch mehr Orte geopfert werden dürfen, schon gar nicht sein geliebter Bauernhof. Umso schockierter ist er, als er von der zuständigen Behörde Post erhält: Mit einem Grundabtretungsbeschluss teilt die Behörde ihm mit, dass sie ihn enteignet und sein Eigentum dem Energiekonzern RÖMER überträgt. Die Behörde stützt sich dabei auf das Bundesberggesetz. In diesem ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen eine Grundabtretung zulässig ist; insbesondere ist dort auch vorgesehen, dass die Grundabtretung dem Allgemeinwohl dienen muss. B wendet sich entrüstet an das zuständige Verwaltungsgericht: Klimaschutz sei wohl ein Fremdwort für die Behörde, dabei sei dieser doch sogar im Grundgesetz verankert. Es könne nicht sein, dass sein Grundstück ernsthaft dem Kohleabbau weichen müsse. Nicht zuletzt geht es ihm auch um seine wirtschaftliche Lage: Er nutzt den Hof nicht zum Wohnen, sondern ausschließlich zum Anbau und Verkauf seiner Produkte. B führt aus, dass sein schönes Biogemüse sich so großer Beliebtheit erfreue, gehe auch darauf zurück, dass der Boden auf seinem Land besonders gut sei. Die Behörde enteigne ihn nicht nur, sie verhindere auch seine weitere Berufsausübung. Dass sie ihm ein Ersatzgrundstück anbietet, könne das nicht kompensieren. Dieses sei zwar zugegebenermaßen ähnlich groß und auch die Bodenqualität sei annehmbar. Er müsste sich dort aber alles, inklusive seines Kundenstamms, neu aufbauen.

 

Sowohl A als auch B wehren sich erfolglos vor Gericht. Als auch das Bundesverwaltungsgericht nicht in ihrem Sinne entscheidet, ruht ihre letzte Hoffnung auf dem BVerfG. Dieses habe schließlich vor kurzem selbst erst betont, wie wichtig der Klimaschutz sei, es werde deshalb sicherlich in ihrem Sinne entscheiden.

Sie legen deshalb beide Verfassungsbeschwerde ein.

In Karlsruhe werden die beiden Verfahren gem. § 66 BVerfGG verbunden.

 

Aufgabe:

a) A und B beauftragen Sie damit, sie als Prozessbevollmächtigte:r in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 22. und 23. Juni 2023 zu vertreten.

b) Sie sollen als zuständige:r Vertreter:in des Landes Niedersachsen in derselben Verhandlung Stellung nehmen.

 

Bearbeitungsvermerk:

Es ist davon auszugehen, dass sowohl die Polizei als auch die enteignende Behörde auf der Grundlage verfassungskonformer Gesetze handeln.

Fall: Spaziergang mit Folgen

Deutschland befindet sich fest in den Händen der Corona-Pandemie. Aktuell rollt die nächste Welle über das Land hinweg. Bund und Länder einigen sich während einer Nachtsitzung auf eine erneute Verschärfung der Maßnahmen.

Im ganzen Bundesgebiet kommt es vermehrt zu Protesten gegen die beschlossenen Verschärfungen. Seit einiger Zeit wird jedoch nicht mehr zu Demonstrationen aufgerufen. Indem die „Demonstrationen“ nicht offiziell als solche betitelt werden, soll das Anmeldungserfordernis für Versammlungen und mögliche Auflagen, wie Abstandsgebote und Maskenpflichten umgangen werden. Stattdessen verabreden sich die Teilnehmer/innen via „kovtagramm“ zu sog. Spaziergängen, bei denen die Teilnehmer/innen gemeinsam durch die jeweiligen Innenstädte laufen, meistens gehen sie eine möglichst zentrale Strecke ab. Bei „kovtagramm“ handelt es sich um einen kostenlosen Instant-Messaging-Dienst zur Nutzung auf internetfähigen Endgeräten. Im Messenger können Personen sowohl direkt mit einer anderen Person kommunizieren oder Gruppen mit mehreren Personen beitreten, wobei die Personenanzahl der Gruppen nicht begrenzt ist. Der Zutritt zu als öffentlich eingestellten Gruppen ist frei und erfolgt durch Abrufen eines Links oder eine Suchfunktion. In die Gruppen von Personen, die sich ernsthaft und ausschließlich Sorgen über die Coronapolitik und ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen machen, mischen sich zunehmend auch Angehörige rechtsextremer Bewegungen. Innerhalb dieser rechtsextremen Bewegung treten immer häufiger Strömungen mit völkischen Ansichten auf. Anhänger/innen dieser Ansichten bestreiten u.a. die Existenz der BRD, sind Anhänger/innen der NS-Rassenideologie und sehen das „wahre Deutschland“ im ehemaligen Deutschen Reich. Außerdem ist eine große Überschneidung dieser Personen mit esoterischen und wissenschaftsfeindlich ausgerichteten Gruppen zu beobachten, welche die Existenz des Coronavirus bzw. dessen Gefährlichkeit in Frage stellen. Auch in den entsprechenden Gruppen bei „kovtagramm“ wird vermehrt rechtsextremes Gedankengut geteilt.

Aufgrund dieser Tendenz werden die „Coronaspaziergänge“ von vielen Bürgern/innen und Politikern/innen verurteilt. Man befürchtet eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Aus diesem Grund rief auch der Bundespräsident Bachmüller in einem Fernsehinterview dazu auf, diesen „Spaziergängen“ fernzubleiben und bezeichnete die Teilnehmenden als „nicht ganz richtig im Kopf“.

Die S ist in diversen „kovtagramm“-Gruppen aktiv und war bisher auch jeden Montag in Richtung des Osnabrücker Rathauses „spazieren“. Durch den Aufruf des Bundespräsidenten fühlt sie sich nun verurteilt. Sie ist sich nicht sicher, ob sie weiterhin frei „spazieren gehen“ darf. S befürchtet ihre „Nein zur Impfung“, „Stoppt den Corona-Wahnsinn“ und „Freiheit statt Fake-Pandemie“-Sticker ganz umsonst gebastelt zu haben. Auch befürchtet sie, dass die Äußerungen des Bundespräsidenten andere von der Teilnahme an den Spaziergängen abhalten könnten. Die S teilt ihre Bedenken deshalb in einer ihrer „kovtagramm“-Gruppen und findet sich dort in ihren Sorgen bestätigt – schließlich soll der Bundespräsident über allen gesellschaftlichen Streitigkeit stehen und dürfe nicht einfach so einen Teil seines Volkes verurteilen.

S lässt sich daraufhin anwaltlich beraten und erhebt schließlich Feststellungsklage vor dem Verwaltungsgericht. Sie ist in allen Instanzen erfolglos.

Auch der H hört von der Äußerung des Bundespräsidenten. Er teilt seine Wut darüber in einem Post auf „Glitter“. „Glitter“ ist ein Mikrobloggingdienst im Internet mit Millionen von Nutzern. Die Posts sind weltweit abrufbar. H glittert „Unfassbar, was sich unser Bundespräsident da wieder erlaubt! Der hat sie doch nicht mehr alle, jetzt verteilt er schon Gesinnungsverbote. Der wünscht sich wohl die NS-Zeit zurück, in der man kurzen Prozess mit Andersdenkenden machen konnte! Eine Schande für unser Land, der Mann.“ Als der Bundespräsident davon erfährt, ist er entsetzt. Kritik sei in einer Demokratie natürlich wünschenswert, aber persönlich beleidigen lassen müsse er sich nicht. Dass ihm dann noch unterstellt wird, dass er der NS-Zeit hinterhertrauere, ginge ja wohl eindeutig zu weit. Alles sei nun auch wieder nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Zwei Wochen später bekommt H Post von der Staatsanwaltschaft, ihm wird mitgeteilt, dass gegen ihn eine Anklage wegen einer gegen eine Person des politischen Lebens gerichteten Beleidigung gem. § 188 Abs. 1 StGB erhoben wird. H erklärt vor Gericht, dass es „ja immer schöner würde, wenn man nicht mal seine Meinung mehr frei äußern dürfe“. Das überzeugt das Gericht nicht, H wird verurteilt. Nach dem H erfolglos durch alle Instanzen geklagt hat, erhebt H Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe.

Auch die S entschließt sich Verfassungsbeschwerde zu erheben. Schließlich dürfe man auch einem Bundespräsidenten nicht alles durchgehen lassen. Es könne nicht sein, dass dieser durch seine Aussagen besorgte Bürger/innen wie sie von der Ausübung ihrer Versammlungsfreiheit abhalte, dieses wahrzunehmen sei schließlich ihr gutes Recht. Außerdem solle der Bundespräsident doch das ganze Volk repräsentieren, dann dürfe er ja wohl kaum einen Teil der Bevölkerung beleidigen.

In Karlsruhe werden die beiden Verfahren zu einem verbunden.

 

a) Sie sind von H und S als Rechtsanwalt/Rechtsanwältin beauftragt und sollen sie als Prozess­bevollmächtigte(r) in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 16. und 17. Juni 2022 vertreten.

b) Sie sollen als zuständige(r) Vertreter(in) des Bundespräsidenten und des Landes Niedersachsen derselben Verhandlung Stellung nehmen.

Fall: Schluss mit lustig

Nach der Verurteilung einer Frauenärztin gem. § 219a StGB, die auf ihrer Homepage darauf hinwies, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, und weitere Informa tionen zur Durchführung online gestellt hatte, kommt es in ganz Deutschland zu Pro testen. Verschiedene frauenrechtliche Organisationen fordern die vollständige Ab schaffung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche nach § 219a StGB. Die Information über Schwangerschaftsabbrüche sei noch keine Werbung, die dazu füh ren würde, dass mehr Frauen eine Schwangerschaft abbrechen würden. Dagegen betonen konservative Vereinigungen und insbesondere die christlichen Kirchen den hohen Wert des ungeborenen Lebens. Bei einer Streichung des § 219a StGB sei zu befürchten, dass sich das gesellschaftliche Verständnis des Schwangerschaftsab bruchs weiter veränderte und dadurch der Staat seinem Schutzauftrag für das unge borene Leben nicht mehr ausreichend nachkommen könne. 

Auch der erzkonservative Kirchenfunktionär H beteiligt sich an den Debatten in ex ponierter Weise. Er äußert sich dahingehend, dass der Staat bereits mit den jetzigen §§ 218 ff. StGB seinem Schutzauftrag nicht ausreichend gerecht werde und vielmehr jegliche Schwangerschaftsabbrüche verboten gehörten. Nur dies entspräche den christlichen Werten sowie dem Grundgesetz. 

An der scharfen Kritik, die sich daraufhin gegen H richtet, beteiligt sich auch die Kari katuristin K. Sie ist Zeichnerin für das bekannten Satiremagazins Olympic und enga giert sich in einem bundesweiten Bündnis für die Abschaffung des § 219a StGB. Das Magazin Olympic erscheint im Verlag der V-GmbH. 

Als Reaktion auf die Äußerungen des H, druckt das Olympic Magazin in der nächsten Ausgabe folgende, von K gezeichnete Karikatur ab: Zunächst zeigt die Karikatur die christlichen Figuren Maria und Josef in einem Ge spräch: Maria: „Scheiße, Josef, ich bin schwanger.“ Josef: „Oh fuck, Maria! Wie kann das sein? Wir haben doch nie…“ Maria: „Ich muss dir da was erzählen. Ich war also ganz alleine, da stand plötzlich jemand im Schlafzimmer und sagt, er heißt Gabriel. Und eins führte zum anderen…“ Josef: „Der Heilige Geist! Das muss ja ein schöner Heiliger Geist sein, der meine Verlobte hinter meinem Rücken von hinten bumst. Was nun?“ Maria: „Ich werde natürlich abtreiben!“ Josef: „Ja, das wird wohl das Beste sein!“ Stimme von oben: „Um Gottes Willen, Maria und Josef!“ Maria: „War doch nur Spaß!“ 1 XIV. VERFASSUNGSRECHTLICHER MOOT COURT AN DER JURISTISCHEN FAKULTÄT DER UNIVERSITÄT OSNABRÜCK SOMMERSEMESTER 2019 Darunter folgen drei einzelne kleine Zeichnungen mit der gemeinsamen Überschrift: „Maria, hättest du nur abgetrieben, was wäre uns erspart geblieben!“ Auf der ersten Zeichnung sind drei Kreuzritter abgebildet, welche eine unbewaffnete Familie angrei fen. Darunter steht „Christlicher statt islamistischer Terror“. Die zweite Zeichnung zeigt einen weinenden Messdiener vor dem Altar. Betitelt ist die Zeichnung mit „‘Schutz‘ von Unschuldigen“. Die dritte Zeichnung zeigt den Kirchenfunktionär H mit erhobenem Zeigefinger. In der anderen Hand hält er eine Geißel, mit der er im Hin tergrund stehenden Frauen droht. Der Titel lautet „Hexenverfolgung in neuem Gewand“. 

Sowohl die katholische Kirche und als auch H sind empört über den Dialog und die Zeichnung. H fühlt sich in seiner Ehre und seiner Glaubensfreiheit verletzt. Die Gleichsetzung seiner Person mit den Kreuzzügen und dem Missbrauchsskandal ent behre jeder Auseinandersetzung in der Sache und sei als Schmähkritik unzulässig. Nach der Veröffentlichung klagt daher die katholische Kirche als juristische Person des öffentlichen Rechts auf Unterlassung der weiteren Veröffentlichung und H auf Schadensersatz aus § 823 I BGB wegen Verletzung seines allgemeinen Persönlich keitsrechts. Die Klagen richten sich gegen die V-GmbH, die das Satiremagazin Olympic verlegt. Die Klagen sind erfolgreich und auch die Berufung der V-GmbH ge gen die erstinstanzlichen Urteile bleibt erfolglos. Die Revision wird nicht zugelassen. Da die V-GmbH sich in ihrer Meinungs-, Presse-, Kunst- und Berufsfreiheit verletzt sieht, erhebt sie Verfassungsbeschwerde. Sie ist der Ansicht, dass die abgedruckte Karikatur einen kritischen Beitrag zur aktuellen Diskussion leiste und damit in allen Aspekten von der Meinungsfreiheit geschützt sei. Außerdem werde kein Christ durch die Karikatur in seiner Religionsausübung eingeschränkt, die Religionsfreiheit könne daher schon gar keine Anwendung finden. Die katholische Kirche und H wenden ein, dass eine Schmähkritik und Darstellung von Blasphemie schon nicht den Schutz der Kunstfreiheit oder Meinungsfreiheit genießen könne. 

Die V-GmbH legt gegen das letztinstanzliche Urteil frist- und formgerecht Verfas sungsbeschwerde ein. 

a) Sie sind von der V-GmbH als Rechtsanwalt beauftragt und sollen sie als Prozess bevollmächtigte(r) in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsge richt am 20. und 21. Juni 2019 vertreten. 

b) Sie sollen als der zuständige Vertreter des Niedersächsischen Justizministeriums in derselben Verhandlung Stellung nehmen. Das Niedersächsische Justizministerium ist nach § 94 Abs. 1 BVerfGG äußerungsberechtigt, da das letztinstanzliche Urteil durch ein niedersächsisches Gericht ergangen ist.

Fall: Der Gipfel des Protests

Der Gipfel des Protests

Am 07. und 08. Juli 2017 findet in der niedersächsischen Stadt S ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20-Gipfel) statt. Der Gipfel dient dem politischen Austausch auf höchster Regierungs­ebene über globale Herausforderungen wie etwa den Klimaschutz, die Bewältigung der Flüchtlingskrisen sowie die Regulierung der Finanzmärkte. Der Gipfel ist nach Ansicht der Regierungen notwendig, um eine fruchtbare internationale Zusammenarbeit sicherzustellen.

Gleichzeitig sieht sich die G20 auf dem Gipfel enormer Kritik aus der nationalen und internationalen Bevölkerung ausgesetzt. Die G20-Gegner organisieren sich schon Monate im Voraus und planten diverse Protestaktionen. Auch die niederländische Staatsangehörige Anni Anti (A), die seit vielen Jahren in der linksautonomen Szene aktiv ist, möchte – wie in der Vergangenheit schon so häufig – gegen „die Unterdrückung strukturarmer Länder durch eine konzentrierte Übermacht starker Staaten“ protestieren  und plant gemeinsam mit ihren Mitstreitern vom 02. bis 09. Juli 2017 bis zu 5.000 Menschen im „Camp gegen kapitalistische Ausbeutung“ zu versammeln. Hierfür meldet sie im Vorfeld des Gipfels bei der zuständigen Behörde für diese 8 Tage eine „Dauer­versammlung“ für das gesamte Gebiet des Schlossparks an. Der Schlosspark ist eine weitläufige Grünfläche, die den Bewohnern der Stadt S als Naherholungsgebiet dient und in der regelmäßig Großveranstaltungen, wie etwa Konzerte, veranstaltet werden. Er liegt in fußläufiger Entfernung zum Stadtzentrum und zum Tagungsort der Gipfelteilnehmer, aber außerhalb der strengsten Sicherheitszone, in welcher ein generelles Versamm­lungsverbot für die Zeit des Gipfels besteht und wo der Zugang durch Personalausweis­kontrollen kontrolliert wird. Das Camp soll für alle Bürger frei zugänglich sein und an zentraler Stelle auf drei Bühnen und in mehreren großen Zelten Diskussionen und Protestaktionen ermöglichen. Dabei sollen – anders als bei Großdemonstrationen – alle Teilnehmer zu Wort kommen können. Das Camp soll nach thematischen Schwerpunkten aufgeteilt werden, die von den Mitgliedern eigenverantwortlich organisiert werden. Auf dieser Grundlage wird ein Programm zusammengestellt, welches tagsüber bis in den späten Abend – jedoch nicht die ganze Nacht hindurch – eine thematische Auseinander­setzung mit den Gipfelinhalten sowie den Protest gegen diese ermöglicht. Gleichzeitig soll das Camp die notwendige Infrastruktur für einen mehrtägigen Aufenthalt der Teilnehmer bieten. Neben bis zu 2.000 Übernachtungszelten sollen zwei Großküchen, mehrere Gemeinschaftszelte sowie ausreichend Sanitäranlagen, eine Möglichkeit der Müllentsorgung und eine Frischwasser- sowie eine Stromversorgung eingerichtet werden.

Nach der Vorstellung von A ist bereits die Organisation und Durchführung des Camps ein Protest gegen das „kapitalistische Profitdenken und die unsolidarische Tauschlogik“ und das „Vorrecht der Reichen“ sein: Das Camp sei von den Grundgedanken der Solidarität und  der Selbstbestimmung getragen – jede/r könne kommen und mitbringen was er zur Verfügung hat, es gebe keinen Eintritt, die Finanzierung werde durch Spenden sicher gestellt und jede/r könne sich nach den eigenen Fähigkeiten zum Gelingen des Camps organisatorisch oder inhaltlich einbringen, alle Entscheidungsprozesse seien basisdemokratisch organisiert; gleichzeitig dürfe jede/r so lange bleiben wie er/sie wolle und sich in den frei zugänglichen Gemeinschaftsküchen kostenlos versorgen. Entspre­chend macht A das Camp im Vorfeld des G20-Gipfels in den sozialen Netzwerken und auf den einschlägigen Internetseiten bekannt. Zu gewaltsamen Ausschreitungen ruft sie nicht auf.

Wenige Tage vor Beginn des Gipfels gibt die Stadt S der A folgenden Bescheid bekannt:

„I. Die Veranstaltung eines Protestcamps im Schlosspark vom 02.07.2017 bis 09.07.2017 wird untersagt.

II. Stattdessen ist die Versammlung im Gartenpark durchzuführen. Notwendige Versorgungseinrichtungen (Toiletten, Strom, Frischwasser, Mülleimer) sind vor Öffnung des Camps für die Öffentlichkeit einzurichten und bis zum Ende der Veranstaltung wieder abzubauen.

III. Der Aufbau von Küchen und von Übernachtungszelten wird untersagt.

IV. Es dürfen Workshop-Zelte sowie Bühnen errichtet werden, in/auf denen nur Veranstaltungen durchgeführt werden dürfen, die der Meinungskundgabe dienen.

V. Die Teilnehmerzahl ist auf 5.000 Besucher des Camps zu beschränken.

S stützt diese Verfügung auf § 8 Abs. 1 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes und ordnet die sofortige Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO an.

S begründet diese Entscheidung wie folgt: Der Aufbau von Küchen und Übernachtungs­zeiten unterfiele nicht dem Versammlungsbegriff und unterstehe somit nicht dem besonderen Schutz des Versammlungsrechts. Die Verlegung des Camps sei notwendig, weil die Lage im Stadtzentrum für die Ordnungsbehörden ansonsten – auch wegen der sonstigen angemeldeten Proteste – zu unübersichtlich würde. Außerdem solle der Schlosspark vor, nach und auch während des G20-Gipfels für die Stadtbevölkerung als Naherholungsgebiet dienen – dies sei nur möglich, wenn der Park nicht voller Zelte stünde und die Grünanlagen auch nicht zerstört würden. Vergleichbare Camps seien, was der Wahrheit entspricht, in der Vergangenheit bereits eine „Quelle von Ausschrei­tungen“ gewesen – auch zum Schutz der übrigen Bevölkerung müssten die angemel­deten Veranstaltungen räumlich voneinander getrennt werden, um für alle einen sicheren Ablauf zu gestalten.

A ist empört über diesen Bescheid. Der Gartenpark ist deutlich kleiner als der Schloss­park und liegt weit außerhalb des Stadtzentrums, sodass dieses nicht mehr fußläufig zu erreichen ist und somit auch die Wahrnehmbarkeit der Protestaktionen im Camp durch die Bevölkerung und die Medien eingeschränkt wird. Außerdem würden die Teilnehmer durch das Verbot, Übernachtungszelte aufzustellen und durch das Koch-Verbot in der Durchführung ihres Protestes massiv eingeschränkt. Die Zelte und Küchen seien unabdingbare Teile des Versammlungskonzeptes und müssten schon als solche geschützt sein. Auch müssten sich die Teilnehmer sonst andere Übernachtungsgelegen­heiten und Versorgungsmöglichkeiten suchen - die Wege zum entlegenen Gartenpark seien sehr lang. Alle Unterkünfte insbesondere für die vielen Gipfelteilnehmer und Pressevertreter seien seit vielen Monaten ausgebucht und es sei mit massiven Einschränkungen des öffentlichen Personen-Nahverkehrs zu rechnen. Damit könnten viele Interessierte aus finanziellen oder tatsächlichen Gründen an dem Aufenthalt im Camp gehindert werden.

A legt alle zur Verfügung stehenden vorläufigen gerichtlichen Rechtsmittel ein, ist aber damit nicht erfolgreich. Sie muss sich damit zufrieden geben, das Camp im Gartenpark durchzuführen. Entsprechend des Bescheides werden ab dem 02. Juli 2017 die notwendigen Versorgungseinrichtungen aufgebaut. In den folgenden Tagen diskutieren, singen, tanzen und demonstrieren in dem Camp mehrere Tausend Menschen, es formieren sich Sprechchöre, Plenumsdiskussionen und Theatergruppen. Überall werden Plakate und Transparente gemalt und aufgehängt, die Zeltwände werden mit politischen Botschaften bemalt. Ein Großaufgebot der Polizei sichert den friedlichen Verlauf der Veranstaltung ab.

Gleichzeitig verschärft sich im Stadtzentrum und um den Tagungsort des G20-Gipfels herum die Sicherheitslage massiv. Demonstranten randalieren, setzen Autos in Brand und werfen Steine, Flaschen und Dachziegel auf Polizisten. Außerdem wächst die Kritik am vermeintlich rabiaten Vorgehen der Polizisten auch in harmlosen Situationen. Die Organisatoren des „Camps gegen kapitalistische Ausbeute“ solidarisieren sich auf der Homepage des Camps und in den sozialen Netzwerken mit den randalierenden Demonstranten im Stadtzentrum, motivieren sie zum „Durchhalten“ und kündigen „Unterstützung“ an.

Ab dem Morgen des 7. Juli fliegt eine – vom Boden aus gut erkennbare - Drohne der Polizei über dem Camp. Die unter der Drohne angebrachte Kamera filmt das Lager im Überblick, ohne einzelne Personen näher ins Visier zu nehmen und überträgt die Bilder auf die Bildschirme in einem nahegelegenen Einsatzwagen. Die Polizisten erhalten so einen Überblick über die wesentlichen Bewegungen im Camp, können aber keine einzelnen Gesichter, wohl aber farblich auffällige Kleidungsstücke oder Aufschriften großer Transparente entziffern. Der polizeiliche Einsatzleiter am Gartenpark informiert A über den Einsatz der Drohne auf Grundlage von § 12 NVersG. Die Polizei informiert das Camp außerdem, dass die Aufnahmen nicht generell gespeichert werden sollen. Im Fall einer unmittelbar vom Camp ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit, etwa im Falle gewaltsamer Ausschreitungen, sei aber sowohl eine Absenkung der Flughöhe der Drohne und damit die Möglichkeit der Identifizierung einzelner Personen, also auch eine Speicherung des Filmmaterials  möglich und beabsichtigt. Beim Abbau des Camps werden die Veranstalter informiert, dass keine Aufnahmen gespeichert wurden.

Nach Abschluss des Gipfels und Abbau des Camps geht für A der Protest in die nächste Runde. Sie möchte gegen die „Unterdrückung durch den Unrechtsstaat“ vorgehen. Daher legt sie gegen die Verlegung des Camps und dessen Verkleinerung eine Fortsetzungsfeststellungsklage beim zuständigen Verwaltungsgericht ein. Außerdem beantragt sie ebendort die Feststellung, dass die Videoüberwachung rechtswidrig war. A möchte die Rechtslage für die Zukunft klären lassen, da sie beabsichtigt, weiter mit Aufsehen erregenden Mitteln gegen den „kapitalistischen Wahnsinn zu kämpfen“ und bei nächster Gelegenheit wieder ein Protestcamp errichten möchte – der nächste Gipfel kommt bestimmt. Die Einwände von A gegen den Einsatz der Drohne sind vielfältig: Sie sieht eine Verletzung des Versammlungsrechts und des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Der Verlauf der Versammlung hätte keinen Anlass für eine solche Überwachung geliefert – es habe sich um eine „präventive Einschüchterungsmaßnahme“ der Polizei gehandelt, verstärkt durch die Unwissenheit, ob die Geschehnisse nun aktuell aufgezeichnet werden oder nicht. Die Polizei argumentiert hingegen in den Gerichtsverfahren, dass wegen der fehlenden Identifizierbarkeit der Personen bereits kein Grundrechtseingriff vorliege. Selbst wenn ein Eingriff vorliege, so habe dieser nur eine sehr geringe Eingriffsintensität gehabt. Hingegen sei der Einsatz unbedingt notwendig gewesen, weil mithilfe der technischen Möglichkeiten die Polizei einen viel besseren Überblick bekommen habe.

A scheitert mit beiden Anliegen in allen Instanzen. Schließlich legt A legt gegen die letztinstanzlichen Urteile frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht verbindet beide Verfahren gem. § 66 BVerfGG.

 

a) Sie sind von A als Rechtsanwalt/Rechtsanwältin beauftragt und sollen sie als Prozess­bevollmächtigte(r) in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 21. und 22. Juni 2018 vertreten.

b) Sie sollen als zuständige(r) Vertreter(in) der Stadt S in derselben Verhandlung Stellung nehmen.

 

 

Bearbeitervermerk: Von der Verfassungsmäßigkeit der die Grundrechte einschränkenden Gesetze ist auszugehen. Datenschutzrechtliche Bestimmungen sind außer Acht zu lassen.

Fall: Rocker in Fesseln

Aufgrund der vielen Aufgaben, die die Polizei auch im Rahmen der Gefahrenabwehr wahrnehmen muss, diskutieren die Parteien im niedersächsischen Landtag Möglich­keiten, wie die Polizei ihre Aufgaben zur Gefahrenabwehr effektiver wahrnehmen kann. Insbesondere wird die Einführung einer weiteren Standardmaßnahme in Form der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (EAÜ), umgangssprachlich auch Fußfessel genannt, diskutiert, um die Überwachung von Gefährdern zu vereinfachen. Dabei wird argumentiert, dass die ständige Überprüfbarkeit des Aufenthaltsortes eines Gefährders ausreichend ist, um die Realisierung dieser Gefahren zu verhindern. Die Opposition widerspricht diesem Argument und führt an, dass eine EAÜ keine ausreichende Abschreckung darstellt, um insbesondere die Begehung von Straftaten zu verhindern. Die Befürworter einer EAÜ sehen diese schließlich auch als ein milderes Mittel gegenüber der Möglichkeit des Gewahrsams nach § 18 Nds. SOG.

Nach hitziger Diskussion beschließt der niedersächsische Landtag in einem ordnungs­gemäßen Verfahren die Einfügung eines § 21a Nds. SOG:

 

§ 21a Nds. SOG

  1. Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können eine Person dazu verpflichten, ein technisches Mittel, mit dem der Aufenthaltsort dieser Person elektronisch überwacht werden kann (elektronischen Aufenthaltsüberwachung), ständig in betriebsbereiten Zustand am Körper bei sich zu führen und dessen Funktionsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen, wenn dies
  1. unerlässlich ist, um einen Platzverweis nach § 17 durchzusetzen, oder
  2. unerlässlich ist, um die unmittelbare bevorstehende Begehung oder Fortsetzung
  1. einer Straftat oder
  2. einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit zu verhindern.
  1. unerlässlich ist, um eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit abzuwehren.
  1. 1Eine Maßnahme nach Abs. 1 kann verbunden werden mit einem Verbot, bestimmte Orte aufzusuchen, sollte dies unerlässlich für die Gefahrenabwehr sein. 2Kommt es aufgrund einer solchen Maßnahme zu einer Freiheitsentziehung, so haben die Verwaltungsbehörden oder die Polizei unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer zu beantragen.
  2. 1Die Verwaltungsbehörden und die Polizei verarbeiten mit Hilfe der von der betroffenen Person mitgeführten technischen Mittel automatisiert Daten über deren Aufenthaltsort sowie über etwaige Beeinträchtigungen der Datenerhebung. 2Soweit technisch möglich, ist sicherzustellen, dass innerhalb der Wohnung der betroffenen Person keine über den Umstand ihrer Anwesenheit hinausgehenden Aufenthaltsdaten erhoben werden. 3Die Daten dürfen ohne Einwilligung der betroffenen Person nur verwendet werden, soweit dies erforderlich ist für die folgenden Zwecke:
  1. zur Feststellung der Einhaltung eines Platzverweises nach § 17,
  2. zur Verhütung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit,
  3. zur Abwehr einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer dritten Person,
  4. zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der technischen Mittel.

3Die erhobenen Daten werden für mindestens sechs Monate, höchstens einem Jahr gespeichert. 4Die Regelungen der §§ 38 ff. finden Anwendung.

  1. 1Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu befristen. 2Eine Verlängerung um jeweils nicht mehr als drei Monate ist möglich, soweit die Anordnungsvoraussetzungen fortbestehen. 3Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vor, ist die Maßnahme unverzüglich zu beenden.

 

Polizeihauptkommissar A, der in Osnabrück im Bereich organisierte Kriminalität arbeitet, begrüßt die Einführung der EAÜ als neue Standardmaßnahme zur Gefahren­abwehr. Insbesondere möchte er diese nutzen, um die weitere Eskalation einer Ausein­andersetzung zwischen zwei in Osnabrück ansässigen Rockerbanden zu verhindern. In diesem Konflikt haben schon mehrere bewaffnete Konfrontationen zwischen der Rockerbande der Heaven Devils und den Bandaleiros stattgefunden. Der Anführer der Heaven Devils Rainer Rücksichtslos (R), der als Staatsangehöriger Spaniens seit Jahren in Deutschland lebt, wurde bereits wegen gefährlicher Körperverletzung, schweren Raubes und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt. Eine EAÜ als Weisung gem. § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB wurde dabei nicht ausgesprochen.

In jüngster Zeit verschärft sich die Auseinandersetzung zwischen den Rockerbanden weiter. Nach einer Attacke der Bandaleiros auf die Heaven Devils erlangt A Hinweise durch V-Männer, dass die Heaven Devils zu einem verehrenden Racheakt ausholen wollen, welcher insbesondere B, dem Anführer der Bandaleiros gelten soll. R hat unter Zeugen geäußert, dass für einen erfolgreichen Kampf gegen die Bandaleiros „der Kopf der Schlange abgehakt werden muss“ und „B endlich kalt zu machen sei“. Um seine Stellung als Anführer der Heaven Devils nicht zu gefährden, wolle er „die Angelegenheit persönlich in die Hand nehmen“.

Um die weitere Eskalation zu verhindern und das Leben des B zu schützen, erlässt A daraufhin, gestützt auf den neuen § 21a Nds. SOG, folgende Anordnungen: R muss für die nächsten drei Monate eine EAÜ tragen, und er darf einen Bereich von drei Kilometern im Umkreis um seine Wohnung nicht verlassen. Der Bereich ist so gewählt, dass R seinen Arbeitsplatz erreichen und seinen alltäglichen Erledigungen nachgehen kann, jedoch liegen insbesondere der Wohnort des B und das Vereinshaus der Bandaleiros außerhalb des Bereichs. Ein Richter entscheidet nicht über die Maßnahme.

R ist empört und fühlt sich insbesondere in seiner Bewegungsfreiheit und seiner Privatsphäre verletzt. Selbst zum Schutz des B könne es nicht zulässig sein, dass er nun nur noch einen so begrenzten Bewegungsfreiraum habe und selbst Orte nicht betreten könne, die weit von B oder den Bandaleiros entfernt seien.

Daher klagt er gegen die Anordnung des Tragens der EAÜ und dem Verbot des Betretens der genannten Bereiche. Seine Klagen blieben jedoch bis in die letzte Instanz erfolglos. Im Rahmen des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht argumentierte die Polizeidirektion Osnabrück damit, dass für den vorliegenden Fall nicht Art. 2 II GG, sondern Art. 11 GG einschlägig sei. R als Ausländer könne sich aber nicht auf Art. 11 GG berufen, sodass lediglich die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG greife.

 

R legt gegen das letztinstanzliche Urteil des BVerwG frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde ein.

 

  1. Sie sind von R als Rechtsanwalt beauftragt und sollen ihn als Prozessbevoll­mächtigte(r) in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 22. und 23. Juni 2017 vertreten.

 

  1. Sie sollen als der zuständige Vertreter des Niedersächsischen Innenministeriums in derselben Verhandlung Stellung nehmen.

Fall: Avec plezier?

Avec Plezier?

Aufgrund zahlreicher bewaffneter Konflikte im Nahen Osten und Afrika machen sich immer mehr Menschen auf die Flucht vor Terror und Krieg und suchen Schutz in Deutschland. Der Flüchtlingsrat Niederlande/Niedersachsen (FRN), ein in den Niederlanden eingetragener Verein, setzt sich für den Schutz und eine menschenwürdige Lebensperspektive von Flüchtlingen und Migranten mit prekärem Aufenthaltsrecht ein. Die Mitglieder und Helfer des Vereins stammen sowohl aus dem niedersächsischen als auch dem niederländischen Raum. Satzungszweck des Vereins ist unter anderem die Koordination und Organisation der Arbeit mit Flüchtlingen und die Unterstützung dieser Personen, Ziel der Vereinsarbeit ist die Völkerverständigung und das Völkerverständnis. Schon seit Jahrzehnten verleiht der Verein jährlich einen „Denkzettel für strukturellen und systeminternen Rassismus“, der auch im Internet veröffentlicht wird. Die Beiträge zur Verleihung des „Denkzettels“ erfreuen sich insbesondere in der Satiriker-Szene großer Beliebtheit. Auch im Jahr 2015 wurde ein solcher „Denkzettel“ verliehen und eine Online-Version veröffentlicht. Darin hieß es:

 

„Im Jahr 2015 geht der Denkzettel für strukturellen und systeminternen Rassismus zum Antirassismus-Tag 2015 an das Rechtsamt der Stadt Bramsche. Das Rechtsamt unterstellt dem gehörlosen Flüchtling Y, dass er über Jahre hinweg eine Gehörlosigkeit vorgetäuscht habe, obwohl er eine fachärztliche Bescheinigung vorweisen kann. Grund sei die seit Jahren erfolgende sportliche Betätigung im Sport-Club „ 1. FC Bramsche e.V“.

Das Rechtsamt ignoriert mit voller Absicht und ganz bewusst die eindeutigen Fakten, um Gründe für eine Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis anbringen zu können.

 

Im einzelnen:

 

Der gehörlose Y ist 2005 aus Sierra Leona nach Deutschland geflohen. In Bramsche gelang es ihm schnell, bei den Mitgliedern eines Gehörlosenvereins Anschluss zu finden. Er erlernte sogar die deutsche Gebärdensprache und kann nun einige deutsche Wörter lesen und schreiben. Seit 2009 spielt Y im Sport-Club „1.FC Bramsche e.V.“ Fußball.

In einem gerichtlichen Klageverfahren, in dem es um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ging, wurde vom Rechtsamt der Stadt Bramsche im Januar 2010 dem Y unterstellt, er könne sehr wohl hören. Insbesondere seine fußballerischen Aktivitäten zeigten, dass es ihm möglich sei, sich zu verständigen und das Gesagte ab einer bestimmten Lautstärke auch sicher zu verstehen.

Absolut unverständlich ist, wie nach fünf Jahren eine derartige Unterstellung zustande kommt. Zum einen liegen eindeutige fachärztliche Atteste der Ausländerbehörde vor, die Y seine volle Gehörlosigkeit bescheinigen. Zum anderen entbehrt die Argumentation jeglicher Logik. Hinzu kommt, dass Y unterstellt wird, dass er seine Heimatsprache in Schriftform beherrscht, weil er in der Lage war deutsche Buchstaben zu erlernen.

Der Flüchtlingsrat Niederlande/Niedersachsen hat keinerlei Verständnis für derartige realitätsferne und jeglicher Logik entbehrende Rückschlüsse aus Akten, um die Situation eines lebenden Menschen zu beurteilen.

Wegen dieser unmenschlichen, diskriminierenden und jegliche Tatsachen ignorierenden Umgangsweise mit dem Flüchtling Y wird der Denkzettel 2015 für strukturellen und systemimmanenten Rassismus dem Rechtsamt Bramsche, und hier der Sachbearbeiterin Ursula U. (U) verliehen.“

 

Verantwortlich für den Text des Denkzettels 2015 ist der Niederländer Paul Plezier (P), welcher hauptberuflich in Tageszeitungen satirische Beiträge veröffentlicht.

Wegen seiner Äußerungen wurde P durch das Amtsgericht Bersenbrück wegen übler Nachrede gem. §§ 186, 194 StGB zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 60 Euro verurteilt. Das Landgericht Osnabrück nahm die hiergegen eingelegte Berufung mit angegriffenem Beschluss gem. § 313 II StPO nicht zur Entscheidung an und verwarf sie als unzulässig, da sie offensichtlich unbegründet sei.

Zur Begründung führten die Gerichte an, dass die im Denkzettel getätigten Äußerungen Tatsachenbehauptungen darstellen würden, die dem Beweis zugänglich seien. Insbesondere seien dies die Behauptungen, dass U wissentlich Tatsachen bei ihren Ausführungen gegenüber dem VG verschwiegen habe, um Gründe für die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis vorbringen zu können und einem strukturellen und systemimmanenten Rassismus Vorschub leiste. Dies sei erweislich unwahr. Die ärztlichen Stellungnahmen hätten in Wahrheit der U bei ihrer Stellungnahme nicht vorgelegen. Weiter habe sie die Schlussfolgerung, dass Y seine Heimatsprache schriftlich beherrsche und damit in der Lage sei, bei seiner Botschaft ein Dokument über seine Herkunft zu erlangen, ausdrücklich als „Unterstellung“ bezeichnet. Daher habe die Sachbearbeiterin nicht bewusst Tatsachen verschwiegen.

Zwar habe sich P gegen einen seiner Meinung nach gezeigten Rassismus einer Behörde und ihrer Mitarbeiter gewandt und so Interessen behandelt, die in einem demokratischen Rechtsstaat jeden angehen. Die Äußerungen im Internet seien jedoch weder geeignet noch erforderlich, diese Interessen wahrzunehmen. Die Äußerungen hätten das Verhalten im Gerichtsverfahren nicht geändert, und für eine Kritik bedürfe es nicht einer ehrverletzenden Äußerung. Bei sorgfältiger Recherche hätte P erkennen können, dass U wichtige Teile der Akte nicht vorgelegen hätten und sie somit nicht absichtlich und bewusst Fakten ignoriert habe. Vor allem bei einer Internetveröffentlichung müsse eine vorige sorgfältige Prüfung stattfinden. Das Landgericht ergänzte unter anderem, dass zwar Wertungen in den Äußerungen enthalten seien, aber die ehrverletzenden Tatsachenbehauptungen im Vordergrund stünden. Zwar gehöre es zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, Maßnahmen öffentlicher Gewalt ohne Furcht vor Sanktionen scharf kritisieren zu können. Dies werde jedoch im Falle einer vordergründigen Diffamierung einer Person oder bei einem illegitimen Beitrag zur Meinungsbildung eingeschränkt. U habe einen Anspruch, nicht mit wahllosen Beschimpfungen, existenzbedrohenden öffentlichen Verdächtigungen oder willkürliche Abwertungen überzogen oder mundtot gemacht zu werden.

P ist empört. Er sieht sich als Künstler und durch die Verurteilung in seinen Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. Die Beiträge zur Verleihung des Denkzettels stellten für ihn ein wichtiges Instrument zur Akquise neuer Aufträge in der Zeitungsbranche dar. Er selbst sehe sich als modernen Künstler, der bei seinen Äußerungen nur seiner Kreativität freien Lauf lasse.

 

P legt gegen das letztinstanzliche Urteil frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde ein.

 

  1. Sie sind von P als Rechtsanwalt beauftragt und sollen ihn als Prozessbevollmächtigte(r) in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 23. und 24. Juni 2016 vertreten.
  1. Sie sollen als der zuständige Vertreter des Niedersächsischen Justizministeriums in derselben Verhandlung Stellung nehmen.

Fall: Freie Sicht ins Gesicht

Die 19-jährige Ayşe Abdul (A) war mit Beginn des Schuljahres 2013/2014 in die Einführungsphase des Abendgymnasiums Osnabrück aufgenommen worden. Das Abend gymnasium Osnabrück ist eine staatliche, bekenntnisfreie Schule des Zweiten Bildungsweges, die Erwachsene zur Allgemeinen Hochschulreife führt. A ist muslimischen Glaubens und sieht sich nach ihrem Glaubensbekenntnis zum Tragen einer gesichtsverhüllenden Verschleierung, dem sog. Niqab, verpflichtet. Dabei ist ihr Gesicht derart verdeckt, dass nur noch ihre Augen sichtbar sind. 

Nach Beginn des Schuljahres wurde ihre Aufnahme am Abendgymnasium mit Bescheid vom September 2013 von der Schulleitung widerrufen, da A sich geweigert hatte, ohne gesichts verhüllende Verschleierung am Unterricht teilzunehmen. Dass A den Niqab tragen würde, war vor Unterrichtsbeginn für die Schulleitung nicht erkennbar gewesen, da A auf den Passfotos der von ihr eingereichten Unterlagen nur mit Kopftuch abgebildet war und auch in den zuvor besuchten Schulen lediglich mit Kopftuch am Unterricht teilgenommen hatte. 

Zur Begründung des Widerrufs führte die Schulleitung an, sie sei berechtigt gewesen, die Aufnahme der A von vornherein abzulehnen, da A nicht bereit sei, sich so zu verhalten, dass die Schule ihren grundgesetzlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag sachgerecht erfüllen könne. Damit verletzte A ihre Pflichten nach dem Landesschulgesetz. Das Tragen eines Niqab sei ein objektives Unterrichtshindernis, da A hinter dem Schleier nicht identifiziert werden könne. So verhindere eine Gesichtsverschleierung aus pädagogischer Sicht die Erfüllung des Unterrichtsauftrags, da eine offene Kommunikation und soziale Interaktion durch Mimik und Gestik zwischen Lehrer und Schülerin sowie zwischen den Schülern dadurch erheblich eingeschränkt sei. Ferner bestünden Schwierigkeiten beim Sprachverständnis, da die Sprache durch den Schleier erheblich gedämpft und daher nur schwer zu verstehen sei. Zu bedenken sei ebenfalls die Verletzungsgefahr bei Versuchen in den naturwissenschaftlichen Fächern durch die leichte Brennbarkeit des Schleiers. Eine besonders gravierende Beeinträchtigung der A in ihrer Glaubensfreiheit sei nicht ersichtlich, zumal A in den bislang besuchten Schulen auf den Niqab habe verzichten können. Außerdem sei der Besuch des Abendgymnasiums nicht die einzige Möglichkeit für A, das Abitur zu machen. 

Zudem habe der Versuch der A, Lehrer und Mitschüler zu einer Solidarisierung zu bewegen, an der Schule zu erheblicher Unruhe geführt und eine aufgebrachte bis aggressive Stimmung unter den Mitschülern verursacht. Bereits in der Vergangenheit sei es in ähnlich gelagerten Fällen zu Konflikten mit religiösem Bezug, insbesondere Diskriminierungen einzelner Schüler (z.B. durch Beleidigungen, Bedrohungen, Ausgrenzungen), gekommen. Durch eine Entfernung der A von der Schule könne man einer drohenden Wiederholung derartiger Vorfälle wirksam entgegentreten.

A ist empört. Sie möchte wieder am Abendgymnasium aufgenommen werden. Organisatorische Erwägungen könnten keinen Vorrang vor ihrem Grundrecht auf freie Religionsausübung haben. Sie wäre sogar bereit, ihre Identität hinter dem Schleier durch eine andere weibliche Person überprüfen zu lassen. Zudem könne sich in Klassen mit bis zu 30 Schülern der Lehrer gar nicht mit der Mimik und Gestik der einzelnen Schüler befassen, und auch der Erfolg in Fächern wie Mathematik und Physik könne nicht davon abhängen, dass der Lehrer den Schülern ins Gesicht blicken kann. A sei gut in die Klassengemeinschaft integriert und bislang habe sich noch kein Mitschüler über ihre Verschleierung beschwert. Sie wolle dadurch weder andere Schüler provozieren noch für ihren muslimischen Glauben werben. Ein Niqab sei zudem nicht stärker brennbar als andere Kleider aus Kunstfasern. Zwinge man A, den Niqab abzulegen, nähme man ihr ihre religiöse Identität. Darüber hinaus gebe es bei volljährigen Schülern gar keinen staatlichen Erziehungsauftrag mehr. 

Alle verwaltungsrechtlichen Klagen gegen den Widerruf blieben jedoch erfolglos. Daraufhin legte A gegen das letztinstanzliche Urteil frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde ein. 

a) A kommt zu Ihnen und bittet Sie, sie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG am 11. und 12. Dezember 2014 zu vertreten. 

b) Sie sind der zuständige Dezernent der Landesschulbehörde und sollen sich in derselben Verhandlung als Prozessbevollmächtigter äußern. Bearbeitervermerk : Die Widerrufsentscheidung ist auf § 49 II Nr. 3 des Verwaltungsverfah rensgesetzes i.V.m. § 1 I NVwVfG gestützt, einer formell und materiell verfassungsgemäßen Ermächtigungsgrundlage.

Fall: Studium am besten zu Hause

Im niedersächsischen Wissenschaftsministerium machte sich Sorge breit, seit der Ministerin eine Studie vorgelegt wurde, die belegte, dass an niedersächsischen Hochschulen immer weniger Studenten eingeschrieben sind. Der Run der geburtenstarken Schulabgängerjahrgänge auf die Hochschulen in Niedersachsen blieb allen Prognosen zum Trotz aus. Insbesondere die Zahlung einer pauschalen Studiengebühr in Höhe von 500 EUR für jeden Studenten pro Semester schrecke die zahlreichen niedersächsischen Schulabgänger von der Aufnahme eines Studiums ab. Angesichts des wachsenden Akademikermangels in Niedersachsen sind die vorgelegten Zahlen der Studie Zündstoff für lange Diskussionen im Landtag. Blickt man auf die steigenden Abiturientenzahlen aus den geburtenstarken Jahrgängen, so hätten die Erstsemesterzahlen an den Hochschulen längst weiter wachsen müssen, die jedoch stattdessen sogar deutlich zurückgehen. Viele niedersächsische Schulabgänger, die sich letztendlich für die Aufnahme eines Studiums entschieden, haben mit ihrem Studium in Nordrhein-Westfalen begonnen, weil sie sich dort eine kürzere Studiendauer versprachen und keine pauschalen Studiengebühren in Höhe von 500 EUR pro Semester entrichten müssen. 

Um diesem negativen Trend im Land entgegenzuwirken, verabschiedete der niedersächsische Landtag mit seiner Regierungsmehrheit zum Wintersemester 2013/2014 ein niedersächsisches Studienkontengesetz (NStKG), dessen es ist, die Studierenden zu einem effizienten und zügigen Studium anzuhalten und eine wettbewerbsfähige Ausstattung der Hochschulen des Landes zu gewährleisten. Die niedersächsische Landesregierung erhofft sich dadurch, dass insbesondere „Landeskinder“ sich wieder vermehrt an niedersächsischen Hochschulen einschreiben. 

§ 2 NStKG lautet: 

(1) Die Studierenden mit Wohnung oder, soweit mehrere Wohnungen bestehen, mit Hauptwohnung in Niedersachsen erhalten mit der Einschreibung ein einmaliges Studienguthaben von 14 Semestern. 

(2) Die Studierenden mit Wohnung oder, soweit mehrere Wohnungen bestehen, mit Hauptwohnung außerhalb Niedersachsens erhalten mit der Einschreibung ein einmaliges Studienguthaben von zwei Semestern. 

§ 3 NStKG lautet: 

(1) Von Studierenden, die ihr Studienguthaben nach § 2 verbraucht haben, ohne das Studium abzuschließen, oder die ein Zweitstudium absolvieren, erheben die Hochschulen Studiengebühren in Höhe von 500 EUR für jedes Semester. 

(2) Die Studiengebühren können auf Antrag des Studierenden im Einzelfall gestundet, ermäßigt oder ganz erlassen werden, wenn ihre Entrichtung zu einer unbilligen Härte führen würde.  

Die Landesregierung Nordrhein-Westfalens zeigt sich von der niedersächsischen Studienkonten regelungen überrascht. Sie befürchtet, dass es für nordrhein-westfälische Schulabgänger künftig wegen der Bevorzugung von Landeskindern nicht leicht sein wird, einen Studienplatz in Niedersachsen zu bekommen, für den sie dann mehr bezahlen müssten als ihre niedersächsischen Kommilitonen. Außerdem hat sie Bedenken, dass die eigenen Hochschulen nicht mehr wie bislang von niedersächsischen Schulabgängern nachgefragt würden. Schließlich meint sie, dass EU Ausländer durch das NStKG benachteiligt würden und diese Benachteiligung daher gegen die europäische Offenheit des Grundgesetzes verstieße. 

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hält daher das NStKG für unvereinbar mit dem Grundgesetz und ruft das Bundesverfassungsgericht an. Die niedersächsische Landesregierung tritt den verfassungsrechtlichen Bedenken aus Nordrhein-Westfalen entgegen. Die Differenzierung zwischen Ansässigen und Auswärtigen im neuen NStKG sei zulässig, weil sich der Studienwohnsitz bei einem ernsthaft betriebenen Studium ohnehin regelmäßig am Studienort befinde und außerdem eine Härtefallklausel vorgesehen sei. 

Sie sind aufgefordert, als Prozeßbevollmächtigte der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen (Antragstellerin) und der niedersächsischen Landesregierung (Äußerungsberechtigte) in der mündlichen Verhandlung am 12. und 13. Dezember 2013 zu den verfassungsrechtlichen Fragen des NStKG Stellung zu nehmen.

Fall: Das wahre Gesicht?

Die Partei „Für Deutschland“ (D-Partei), die vom Verfassungsschutz Niedersachsen als rechtsextremistisch eingeschätzt und beobachtet wird, will mit einer „Befreiung vom Islam!“-Tour deutschlandweit auf sich aufmerksam machen. Sie meldete daher für den 11. September 2011 bei der zuständigen Behörde der Stadt Osnabrück eine Versammlung auf dem Osnabrücker Rathausplatz mit dem entsprechenden Motto „Islam?-Nein Danke!“ an. Die D-Partei ging bei ihrer Anmeldung von 1.000 bis 1.500 Teilnehmern aus. Wesent­licher Bestandteil der Versammlung sollte die erstmalige Vorführung des islamfeindlichen Films „Das wahre Gesicht Mohammeds“ in Deutschland auf einer mobilen Großleinwand sein. Hierfür warb die D-Partei mit großem publizistischen Erfolg auf ihrer Internetseite. Seit Erscheinen des in den USA produzierten Anti-Islam-Films über den Propheten Mohammed hatte es vor allem in der arabisch-islamischen Welt heftige – teilweise blutige – Massenproteste gegeben.

Die Stadt Osnabrück erließ formell ordnungsgemäß wenige Tage vor der geplanten Veranstaltung einen auf § 8 Abs. 1 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes gestützten Bescheid, mit dem der D-Partei die Aufführung des Films „Das wahre Gesicht Mohammeds“ im Rahmen der Veranstaltung untersagt wurde. Zur Begründung führte die Behörde an, die Verfügung stelle sicher, dass die Versammlung einen störungsfreien Verlauf nehme sowie dass der Anspruch der Allgemeinheit auf Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gewährleistet werde. Die öffentliche Vorführung des islamkriti­schen Films widerspreche herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen und sei mit der Wertordnung des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren. Es sei ferner zu befürchten, dass es als Reaktion auf die Filmvorführung zu gewalttätigen Protesten radikaler Islami­sten komme, wie dies bei vergleichbaren Veranstaltungen in den Nachbarländern Belgien und Frankreich der Fall gewesen sei. Dort habe das Zeigen des Films zu gewalttätigen Ausschreitungen geführt, bei den seitens der Gegendemonstranten Steine geworfen, Polizisten angegriffen und verletzt, Fensterscheiben und Mobiliar von Geschäften zerstört und Autos in Brand gesetzt worden seien.

Der Vorsitzende der D-Partei (V) ist empört. Er ist der Auffassung, das Vorführungsverbot könne schon wegen der grundgesetzlich garantierten Versammlungsfreiheit nicht rechtens sein. Die Vorführung des Films „Das wahre Gesicht Mohammeds“ sei für die Verwirk­lichung des Versammlungszwecks funktional und symbolisch wesensnotwendig. Ferner müsse berücksichtigt werden, dass die bisherigen gewalttätigen Ausschreitungen nur in den Nachbarländern stattgefunden hätten und dort ausschließlich von radikalen Gegen­demonstranten ausgegangen seien. Behördliche Maßnahmen müssten sich daher primär gegen diese richten und die Stadt Osnabrück durch eine entsprechend große Polizei­präsenz möglichen Ausschreitungen entgegenwirken. Die Vorführung des islamkritschen Films sei zudem nicht als Provokation gedacht, sondern impliziere die Kundgabe einer Meinung und fordere damit auch eine Beachtung dieses Grundrechts. Im übrigen gehöre der Islam nun einmal nicht zu Deutschland und daher auch nicht zum Wertesystem der deutschen Verfassung.

Das Verbot wurde jedoch befolgt, die geplante Filmvorführung unterblieb. Im Anschluß blieben alle verwaltungsrechtlichen Klagen gegen das Vorführungsverbot erfolglos. V legte gegen das letztinstanzliche Urteil frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde ein.

a) V kommt in Ihre Kanzlei und bittet Sie, ihn in der mündlichen Verhandlung am 13. und 14. Dezember 2012 vor dem BVerfG zu vertreten.

b) Sie sind der zuständige Behördenleiter der Stadt Osnabrück und sollen sich in derselben Verhandlung als Prozessbevollmächtigter äußern.

 

Bearbeitervermerk: Die D-Partei ist nicht verboten und hat die Rechtsform eines nicht eingetragenen Vereins nach §§ 54, 705 ff. BGB.

Fall: Sind Tiere denn zum Anziehen da?

Rainer Peltz (P) betreibt in Osnabrück ein Bekleidungsgeschäft. Wegen des verregneten Sommers hat P bislang nicht den gewünschten Gewinn erwirtschaftet. Um dennoch am Jahresende „schwarze Zahlen“ schreiben zu können, hofft P in der Wintersaison auf ein gutes „Weihnachtsgeschäft“. Aus diesem Grund bestückt er sich im Herbst neben dem üblichen Sortiment mit echten Nerz-, Zobel- und Chinchilla-Pelzmänteln. Diese Pelzmäntel bewirbt P in der lokalen Zeitung und im Internet auf seiner Facebook-Seite. Die Werbemaßnahmen bringen für P tatsächlich den erwünschten Erfolg. Innerhalb kürzester Zeit sind seine Mäntel überaus stark nachgefragt. Dies ist auch darauf zurück zu führen, dass er der exklusive Vertreiber echter Pelzmäntel in Osnabrück und bis an die niederländische Grenze (Grafschaft Bentheim und Emsland) ist. Die anderen Osnabrücker Einzelhändler haben bereits vor Jahren entschieden, keine echten Pelz-Mäntel zu verkaufen und stattdessen lediglich Pelz-Imitate anzubieten.

 

Dem niederländischen Tierschutzverein „Vrijheid voor dieren“ (T) ist das Pelzgeschäft von P ein Dorn im Auge, insbesondere weil viele niederländische Konsumenten an den Wochenenden zum Einkaufen in die Hasestadt fahren. Daher veranstaltete T am Donnerstag, den 14.10.2010, eine Kundgebung zum Schutz der Tiere in der Großen Straße in Osnabrück. An der Kundgebung nahmen ungefähr 500 Menschen teil. T rief dazu auf, an „Flashmob-Aktionen“ teilzunehmen. Die Einzelheiten dieser Aktionen werden in dem ungefähr zeitgleich veröffentlichten Flugblatt der Organisation sowie auf der Internetseite des Vereins erläutert. Der Text des Flugblatts und im Internet lautet wie folgt:

 

               An alle, die uns unterstützen wollen:

Bitte kauft nicht bei P ein, sondern kommt am umsatzstarken Samstag, den 16.10.2010 um 12 Uhr zum „gezielten Einkauf“. Gezielt einkaufen bedeutet:

  • Viele Menschen verwickeln alle Mitarbeiter von P in ein „Verkaufsgespräch“ über Jeans-Hosen und blockieren damit für längere Zeit die Fachkräfte.
  • Viele Menschen stellen sich zur gleichen Zeit mit billigen Artikeln wie Socken in den Kassenbereich, stellen den Kassierern Fragen zum Umtauschrecht, lassen die Waren dann liegen und blockieren damit für längere Zeit den Kassenbereich.

Um 14 Uhr wird die Aktion beendet und am darauf folgenden Samstag erneut wiederholt.

 

Die von T initiierte Aktion verläuft äußerst erfolgreich. Das Pelzgeschäft des P bricht infolge dieses Flashmobs während dieser Zeit ein. P fühlt sich ungerecht behandelt. Er meint, dass diese Aktion ihn in seinen Rechten verletzt und reicht deshalb Klage auf Unterlassung solcher Aktionen vor dem Amtsgericht Osnabrück ein. Er fürchtet auch in diesem Jahr wiederum Umsatzeinbußen infolge mehrerer Flashmob-Aktionen, die dann seine wirtschaftliche Existenz bedrohen würden. Das Amtsgericht Osnabrück gibt der Klage in seinem Urteil statt und verbietet der T den Flashmob in den Räumen des P. Das Urteil ist versehen mit einer Bußgeldandrohung. Die Berufungs- und Revisionsverfahren des T bleiben ohne Erfolg. Er sieht sich in seinen Rechten verletzt und meint, dass der Tierschutz in der deutschen Verfassung einen hohen Stellenwert genießt. Deswegen legt der Verein vertreten durch seinen Vorstand fristgerecht Verfassungsbeschwerde gegen das letztinstanzliche Urteil ein.

 

  1. T kommt in Ihre Kanzlei und bittet Sie, ihn als Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung am 8./9. Dezember 2011 in Karlsruhe zu vertreten.
  2. Sie sind der Anwalt des P und sollen in derselben Verhandlung für den Äußerungsberechtigten Stellung nehmen.

Fall: Gebet statt Pausenbrot?

Der 15-jährige Muhammed Ali (A) besucht seit dem Schuljahr 2008/2009 die öffentliche, bekenntnisfreie Realschule in Osnabrück. Die Realschule wird von rund 1000 Schülern besucht, die zwölf verschiedenen Religionen und Glaubensrichtungen anhängen (z.B. Buddhisten, Christen, Hindu, Muslime). A ist muslimischen Glaubens und ist nach seinem Glaubensbekenntnis verpflichtet, fünfmal täglich zu festgelegten Zeiten das rituelle islamische Gebet zu verrichten.

 

Am 01.12.2009 betete A mit weiteren sieben Mitschülern in der Pause zwischen der sechsten und siebten Unterrichtsstunde etwa 10 Minuten lang in einem abgelegenen Flur des Schulgebäudes. Sie knieten dabei auf ihren Jacken in Richtung Mekka, um das islamische Mittagsgebet auszuführen. Zur gleichen Zeit wurden sie kritisch von anderen Schülern und einem Lehrer beobachtet, der daraufhin den Schulleiter informierte. Der Schulleiter verbot am folgenden Tag dem A und den ebenfalls angetroffenen Schülern in Zukunft das rituelle islamische Gebet in der Zeit während der Unterrichtspausen auszuüben. Mit Bescheid vom 02.12.2009 teilte der Schulleiter auch den Eltern des A mit, dass ihrem Sohn gemäß §§ 2, 3, 61 I 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes die Verrichtung religiöser Riten auf dem Schulgelände nicht erlaubt sei.

 

A und seine Eltern sind schockiert. Sie sind der Auffassung, das Verbot könne schon wegen der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit nicht richtig sein. Diese gewährleiste A nämlich die ungestörte Religionsausübung auch während des Schulbesuchs, zumindest in der unterrichtsfreien Zeit (Pausen, Freistunden). Sein Glaube schreibe ihm vor, dass er sich an bestimmte Gebetszeiten zu halten habe, die er einem Gebetskalender entnehme. Während der Wintermonate könne er die konkreten Gebetszeiten nur einhalten, wenn er zur Mittagszeit in einer der Schulpausen bete. Es sei ihm nach seinem Glauben auch nicht zumutbar, die Gebete stets auf die Zeit nach Schulschluss zu verlegen oder nur ein persönliches, stilles und unauffälliges Gebet zu verrichten. Zudem sei es bislang durch sein Beten noch zu keinem Konflikt mit dem Schulbetrieb gekommen. Er wolle durch sein Verhalten weder andere Schüler provozieren noch für seinen muslimischen Glauben werben.

 

Der Schulleiter ist da ganz anderer Ansicht. Er ist von der Vereinbarkeit des ausgesprochenen Verbots mit dem Grundgesetz überzeugt.

So seien auch Lehrer und andere Schüler den religiösen Riten von A zwangsläufig ausgesetzt. Bereits in der Vergangenheit sei es an der Schule in ähnlich gelagerten Fällen zu Konflikten und Tumulten mit religiösem Bezug, insbesondere Diskriminierungen einzelner Schüler (z.B. durch Beleidigungen, Mobbing, Bedrohungen, Ausgrenzungen, Pöbeleien), gekommen. Das Verhalten des A stelle daher eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden dar. Um A den neugierigen Blicken seiner Mitschüler zu entziehen und so das Konfliktpotenzial zu minimieren, müsste die Schule ihm schon einen eigenen abgeschlossenen Gebetsraum zur Verfügung stellen. Dies würde aber dazu führen, dass bei gleicher Interessenlage auch anderen Schülern ein Gebetsraum eingerichtet werden müsste, was aber gerade bei der Vielzahl der an der Schule vertretenen Religionen und Glaubensrichtungen angesichts begrenzter personeller und sachlicher Ressourcen organisatorisch nicht realisierbar wäre. Vielmehr habe die Schule dafür Sorge zu tragen, dass das Neutralitätsgebot des Staates in dessen Einrichtungen durchgesetzt werde.

 

A will aber unbedingt weiterhin seinen Glaubensverpflichtungen auch in der Schule nachkommen. Alle verwaltungsrechtlichen Klagen gegen das Verbot bleiben jedoch erfolglos. Daraufhin legt A gegen das letztinstanzliche Urteil frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde ein.

 

a) A kommt in ihre Kanzlei und bittet Sie, ihn in der mündlichen Verhandlung am 09. und 10. Dezember 2010 in Karlsruhe zu vertreten.

b) Sie sind der zuständige Dezernent der Landesschulbehörde und sollen sich in derselben Verhandlung als Prozessbevollmächtigter äußern.

 

Bearbeitervermerk: §§ 2, 3, 61 I 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes ergeben eine formell und materiell verfassungsgemäße Ermächtigungsgrundlage für das vom Schulleiter ausgespro­chene Gebetsverbot.

Fall: Sterben leicht gemacht

Die deutsche Öffentlichkeit diskutiert erregt über die Zunahme von Selbsttötungen in allen Schichten der Bevölkerung. Vor allem die kommerzielle Ausnutzung der Nöte unheilbar Kranker wird in diesem Zusammenhang von vielen Politikern angeprangert. Als die schweizerische Organisation „Dignitas“ in Deutschland eine erste Niederlassung eröffnet, sieht sich der Bundesgesetzgeber gefordert. Man müsse einschreiten, weil Organisationen wie „Dignitas“ und andere vielen Menschen, nicht nur solchen, die an unheilbaren oder un­erträglichen Krankheiten leiden, eine scheinbar leichte Selbsttötungsmöglichkeit anbiete. Anstatt den Leidenden, Altersdementen, Depressiven und Lebensmüden Hilfe im Leben und im Sterben anzubieten, werde der Tod selbst zum Gegenstand geschäftlicher Tätigkeit gemacht. Da es in der Praxis in solchen Fällen häufig zu ergänzenden Erbein­setzungen oder Schenkungen durch die Suizidwilligen komme, liege die Miß­brauchsgefahr auf der Hand. Im übrigen sei zu befürchten, daß das Angebot einer professionellen Vermittlung vermeintlich einfacher Selbsttötungen eine erhebliche Zunahme tatsächlicher Suizide zur Folge haben werde. Dem müsse ein demokratischer Rechtsstaat, der seiner Verantwortung für seine Bürger gerecht werden wolle, einen Riegel vorschieben.

Auf Initiative von Thüringen, Hessen und Niedersachsen bringt der Bundesrat einen Gesetzentwurf in den Bundestag, der dort beschlossen und anschließend ordnungsgemäß verkündet wird. Das Gesetz fügt einen neuen § 217 in das Strafgesetzbuch ein, der lautet:

„§ 217 (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung)

 Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit vermittelt oder verschafft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

 

Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, daß die individuelle Hilfe beim Sterben, die durch enge Vertraute oder durch Ärzte im Rahmen medizinischer Behandlung geleistet wird, von der Neuregelung nicht erfaßt sein soll.

 

Mevis Tofeles (T) ist Geschäftsführer des Unternehmens „EasyDie GmbH“, das in Broschüren und auf ihrer Homepage dafür wirbt, „für Sterbevorbereitung, Sterbebegleitung und Freitodhilfe zur Verfügung zu stehen“; das dafür zu entrichtende Entgelt sei frei vereinbar und stets den Lebensumständen des Suizidwilligen angepaßt. Die Serviceleistungen des Unternehmens bestehen z.B. in der Vermittlung eines Arztes im Ausland, der ein in Deutschland nicht erhältliches tödlich wirkendes Medikament verschreibt, und im Anbieten einer Wohnung in der Schweiz oder den Niederlanden, in der das Gift anschließend durch den Suizidenten eingenommen werden kann.

T hält das neue Gesetz für einen unzulässigen Eingriff in die Grundrechte des Unternehmens sowie für eine Entmündigung der Menschen am Ende ihres Lebens. Wer es mit der Selbstbestimmung des Menschen ernst meine, der dürfe nicht in Frage stellen, daß auch die Selbstbeendigung des Lebens zu dieser Freiheit gehöre.

T erhebt frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz.

Sie sind aufgefordert, als Prozessbevollmächtigte von T und des äußerungsberechtigten Bundestags in der mündlichen Verhandlung am 28. und 29. Januar 2010 zu den verfassungsrechtlichen Fragen der Gesetzesänderung Stellung zu nehmen.

Fall: VMC Helau!

Traditionell feiern Osnabrücks Narren ihren Straßenkarneval am so genannten „Ossensamstag“ zwei Tage vor Rosenmontag. Dazu versammeln sich mehr als hunderttausend Menschen, darunter viele Kinder, aus der ganzen Region zum gemeinsamen Feiern in der Innenstadt. Die Bilanz nach Ossensamstag war in den letzten Jahren erschreckend. Während die einen ausgelassen und fröhlich feierten, erlebten viele Mitarbeiter von Polizei, Rettungsdiensten und Feuerwehr in Osnabrück einen ihrer härtesten Einsätze des Jahres. 

Einige Karnevalisten, darunter auch 11- bis 13-jährige Kinder, mussten in den letzten Jahren mit zum Teil massiven Alkoholeinwirkungen medizinisch versorgt werden. Die Parole „Saufen, bis der Arzt kommt“ nahmen vor allem junge Leute offensichtlich wörtlich. Sie trafen sich bereits frühmorgens zu Hause zum so genannten „Vorglühen“, um danach gut angetrunken während des Karnevalsumzugs weiterzufeiern. Schon auf dem Weg zu Veranstaltungen, an Treffpunkten und in Bussen und Bahn nahmen Jugendliche größere Mengen Alkohol zu sich. Mancher war deshalb schon vor der eigentlichen Feier schwer betrunken. Pöbeleien, Sachbeschädigungen und Schlägereien waren immer wieder die Folge und führten zu zahlreichen Strafverfahren. Selbst Helfer wurden in einigen Fällen von alkoholisierten Randalierern angegriffen. 

Diskussionen um die negativen Begleiterscheinungen des Karnevals führten dazu, dass im Jahr 2008 erstmals Alkohol auf den Wagen und in den Fußgruppen des Umzugs verboten wurde. Dieses Verbot war Teil eines Maßnahmenpaketes, das die Verwaltung der Stadt Osnabrück auf Beschluss des Rates vom 17.07.2007 umgesetzt hat. Diese Regelung hatte bereits einen durchschlagenden Erfolg. Es wurde deutlich weniger Alkohol getrunken, und es gab dementsprechend weniger randalierende Jugendliche. 

Dies zum Vorbild nehmend überlegte sich die niedersächsische Landesregierung, auch im Hinblick auf andere, ähnlich ablaufende Großveranstaltungen in ganz Niedersachsen, ein Alkoholverbot gesetzlich zu regeln, um auch in Zukunft dem Alkoholmissbrauch v.a. von Jugendlichen und zunehmend auch Kindern entgegen zu wirken. Um einen noch größeren Erfolg zu garantieren, sollte dieses „Trinkverbot“ auf sämtliche öffentliche Straßen und Plätze ausgeweitet werden. 

Dazu wurde folgender § 18 Abs. 6 in das Niedersächsiche Straßengesetz (NStrG) eingefügt: 

„(6) Der Konsum von alkoholischen Getränken auf öffentlichen Straßen und Plätzen ist untersagt. Weihnachtsmärkte und Silvesterveranstaltungen sind von diesem Verbot ausgenommen.“ Die karnevalsbegeisterte Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ist angesichts dieser niedersächsischen Regelung schockiert. Sie befürchtet, dass Niedersachsen als Vorreiter ein bundesweites Alkoholverbot provozieren könnte. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hält diese Regelung für unvereinbar mit dem Grundgesetz und ruft das Bundesverfassungsgericht an. 

Sie sind aufgefordert, als Prozessbevollmächtigte von Nordrhein-Westfalen und der äußerungsberechtigten niedersächsischen Landesregierung in der mündlichen Verhandlung am 11. und 12. Dezember 2008 zu den verfassungsrechtlichen Fragen der Gesetzesänderung Stellung zu nehmen.

Fall: Kunst - (nur) eine Frage des Geschmacks?

Der Kunststudent Joseph Jagoscheck wollte als Abschlußarbeit für sein Studium an der Kunsthochschule Osnabrück ein besonders eindrückliches Werk schaffen. Zu diesem Zweck inszenierte er eine fiktive Sendung der „Tagesschau“. In dieser Sendung stürmt ein bewaffneter Mann mit arabischem Äußeren das Fernsehstudio und läßt die Nachrichtensprecherin einen Text verlesen, in dem die unmittelbar bevorstehende Übernahme der Macht in Deutschland durch eine islamistische Vereinigung angekündigt wird. Diese Inszenierung ist täuschend echt und vermittelt den Eindruck, in Berlin stehe die Einnahme aller Schaltstellen der Regierung sowie der gesamten Stadt durch blutige Kämpfe unmittelbar bevor.
Zur Präsentation seiner Aufnahme hatte J seine Kommilitonen sowie die beiden seine Arbeit bewertenden Professoren in eine Gaststätte in der Osnabrücker Innenstadt eingeladen. Die Vertreter der Kunsthochschule und der Wirt der Gaststätte waren in den Plan eingeweiht, alle anderen Gäste ahnten nichts von der Inszenierung. Als J seinen Film in das normale Fernsehprogramm der Kneipe einspielen läßt, kommt es zu hemmungs-losen Gefühlsausbrüchen, Panikreaktionen und tumultartigen Szenen unter den ahnungs-losen Zuschauern. Teilweise verlassen die Gäste in Panik die Kneipe, andere weinen und schreien vor Entsetzen. Zu pathologischen Schockzuständen kommt es allerdings nicht.
Der eingeweihte Teil der Veranstaltung läßt diese Reaktionen auf sich wirken, greift aber nicht ein und klärt auch die Lage erst auf, als der Wirt seine Gaststätte schließen will und die wenigen verbliebenen Gäste immer noch völlig außer sich über die Lage diskutieren.
Diese Inszenierung wurde zwar von den Professoren mit einer überdurchschnittlichen Note bewertet, die Justiz allerdings bewertete die Vorkommnisse unter einem anderen Gesichtspunkt. Aufgrund des oben geschilderten Sachverhalts, den ein Betroffener zur Anzeige gebracht hatte, wurde J zunächst vom Amtsgericht Osnabrück zu einer Geldstrafe wegen Störung des öffentlichen Friedens gemäß § 126 II i. V. m. § 126 I StGB verurteilt. Gegen dieses Urteil legte J zwar Rechtsmittel ein, doch blieb seine Verurteilung auch nach der Erschöpfung des Rechtswegs bestehen. Das letztinstanzliche Urteil des OLG Oldenburg wurde am 17.9.2007 verkündet.

J ist der Meinung, eine solche Verurteilung könne schon wegen seiner grundgesetzlich garantierten Kunstfreiheit nicht richtig sein, erhob Verfassungsbeschwerde gegen die Verurteilung. Zu diesem Zweck reichte er am 1.10. 2007 einen Schriftsatz ein, in dem er die Verletzung des Grundrechts substantiiert behauptete und in dem er alle relevanten Urteilspassagen wörtlich wiedergab. Den Schriftsatz faxte er an das Bundesverfassungsgericht, wobei sein Faxgerät allerdings nicht ordnungsgemäß funktionierte. Aufgrund der Störung des Geräts konnte nur der Schriftsatz, nicht aber die in der Anlage enthaltenen Urteile der Instanzgerichte versendet werden. J war jedoch der Meinung, er habe ja alle relevanten Informationen an das Gericht gegeben und kümmert sich nicht weiter um die fehlgeschlagene Versendung der Anlagen.


a) Am 24.10 2007 kommt er in ihre Kanzlei und bittet Sie, ihn in der mündlichen Verhandlung am 6. und 7. Dezember 2007 in Karlsruhe zu vertreten.
b) Sie sind der zuständige Referent im niedersächsischen Justizministerium und sollen sich in derselben Verhandlung als Prozeßbevollmächtigter des Landes Niedersachsen äußern

Fall: Zu Gast bei wachsamen Freunden

Zu Gast bei wachsamen Freunden

Aus Anlaß der bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft sorgten sich Anfang 2006 viele deutsche Politiker - vor allem öffentlich - um die Sicherheit im Land. Zwölf deutsche Städte waren für dieses Großereignis als Austragungsorte vorgesehen, zahlreiche auswärtige Besucher wurden in Deutschland erwartet. Der Bundesinnenminister hielt das Risiko krawallartiger Vorfälle während der WM für erheblich, weil zu diesem Zeitpunkt die Stimmung im Land durch die Emotionalität des Spiels, aber auch durch die zahlreichen Besucher „sehr aufgeheizt“ sein würde. Auch die Gefahr terroristischer Anschläge war nach Einschätzung der zuständigen Sicherheitskräfte nicht gering. Um Krawallen während der WM vorzubeugen und um ggf. effektiv gegen Randalierer vorgehen zu können, rief der Minister nach neuen gesetzlichen Regeln. Von diesen erhoffte er sich zudem eine wirksame Handhabe gegen potentielle Attentäter, die das sportliche Großereignis  - oder ähnliche Veranstaltungen in der Zukunft - stören wollten.

Im Januar 2006 brachte daher die Bundesregierung den Entwurf eines Allgemeinen Gesetzes über die Sicherheit bei schweren Unglücksfällen (ASG) in den Deutschen Bundestag ein. § 5 dieses Gesetzentwurfs lautet:

(1) Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die Streitkräfte Personen, welche öffentlich Gewalt gegen Personen oder Sachen anwenden bzw. anzuwenden drohen, vorübergehend in Gewahrsam nehmen, gegen sie den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben.

(2) Von mehreren möglichen Maßnahmen ist diejenige auszuwählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Die Maßnahme darf nur so lange und so weit durchgeführt werden, wie ihr Zweck es erfordert. Sie darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.

(3) Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, daß die in Abs. 1 genannten Personen das Leben von Menschen gefährden, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.

 

Innerhalb des Bundestages bestehen Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Grundgesetz. Etliche Abgeordnete, auch solche der Koalitions­fraktionen A und B, halten den geplanten Einsatz der Bundeswehr im Inland für verfas­sungswidrig. Andere meinen, die Regelung sei mit den Grundrechten der im Ergebnis Betroffenen möglicherweise unvereinbar. Dennoch stimmt die Mehrheit des Parlaments, einschließlich der gesamten A-Fraktion, dem Gesetzesentwurf zu. Auch den Bundesrat passiert die Vorlage nach einiger Diskussion problemlos.

 

Der Bundespräsident, dem das Gesetz zur Ausfertigung und Verkündung vorgelegt wird, hält den Inhalt des Gesetzes für verfassungswidrig und verweigert deswegen das Inkraftsetzen. Die A-Fraktion will den Bundespräsidenten gerichtlich zur Ausfertigung und Verkündung veranlassen und bei dieser Gelegenheit die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes überprüft wissen. Sie ruft daher das Bundesverfassungsgericht an.

Sie sind aufgefordert, als Prozeßbevollmächtigte des Bundespräsidenten und der A-Fraktion in der mündlichen Verhandlung am 03. November 2006 zu den verfassungsrechtlichen Fragen des ASG Stellung zu nehmen.

Fall: Sperrbezirk und Haarausfall

Aus Sorge über zunehmende rechtsextremistische Demonstrationen verschärft der Bundesgesetzgeber in einem fraktionenübergreifenden Kompromiss das Versammlungs­gesetz (VersG). In § 15 VersG wird folgender neuer Absatz 2 eingefügt:

 

„(2)    Eine Versammlung oder ein Aufzug kann insbesondere verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn

1. die Versammlung oder der Aufzug an einem Ort stattfindet, der als Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnert, und

2. nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu besorgen ist, dass durch die Versammlung oder den Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ist ein Ort nach Satz 1 Nr. 1. Seine Abgrenzung ergibt sich aus der Anlage zu diesem Gesetz. Andere Orte nach Satz 1 Nr. 1 und deren Abgrenzung werden durch Landesgesetz bestimmt.“

 

Die Anlage zu § 15 Abs. 2 lautet:

 

„Die Abgrenzung des Ortes nach § 15 Abs. 2 Satz 2 (Denkmal für die ermordeten Juden Europas) umfasst das Gebiet der Bundeshauptstadt Berlin, das umgrenzt wird durch die Ebertstraße, zwischen der Straße In den Ministergärten bzw. Lennéstraße und der Umfahrung Platz des 18. März, einschließlich des unbefestigten Grünflächenbereichs Ebertpromenade und des Bereichs der unbefestigten Grünfläche im Bereich des J.-W.-von-Goethe-Denkmals, die Behrenstraße, zwischen Ebertstraße und Wilhelmstraße, die Cora-Berliner-Straße, die Gertrud-Kolmar-Straße, nördlich der Einmündung der Straße In den Ministergärten, die Hannah-Arendt-Straße, einschließlich der Verlängerung zur Willhelmstraße. Die genannten Umgrenzungslinien sind einschließlich der Fahrbahnen, Gehwege und aller sonstigen zum Betreten oder Befahren bestimmten öffentlichen Flächen Bestandteil des Gebiets.“

 

Die bisherigen Absätze 2 und 3 des § 15 VersG werden zu Absätzen 3 und 4. Die Möglichkeit der Auflösung in § 15 Abs. 2 a.F. wird in § 15 Abs. 3 n.F. auch auf Fälle des Abs. 2 n.F. erstreckt, ebenso die Straf- und Ordnungswidrigkeitenbestimmungen in § 25 Nr. 2 und § 29 Abs. 1 Nr. 3.

Ferner erfährt § 3 Abs. 1 VersG eine Ergänzung durch folgende Sätze 2 und 3:

 

„Außerdem ist es verboten, öffentlich oder in einer Versammlung eine Glatze als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung zu tragen. Als Glatze i. S. d. Gesetzes gilt jede Oberseite des menschlichen Kopfes, auf der sich aufgrund Haarausfalls oder Rasur keine Haare mehr befinden.“

 

Schließlich wird durch Änderung des Gesetzes über befriedete Bezirke für Verfassungs­organe des Bundes (BefBezG) die „Bannmeile“ um den Bundestag (§ 2) ausgeweitet. Sie umfasst nunmehr das Gebiet der Bundeshauptstadt Berlin,

 

 

„das umgrenzt wird durch die Wilhelmstraße, die Hannah-Arendt-Straße, die Ebertstraße bis zum Platz des 18. März, die Straße des 17. Juni, die Yitzhak-Rabin-Straße, die Heinrich-von-Gagern-Straße, die Willy-Brandt-Straße, die Moltkebrücke, das nördliche Spreeufer bis zur Reinhardt­straße, die Reinhardtstraße bis zur Stadtbahntrasse, die Stadtbahntrasse bis zur Luisenstraße, die Luisenstraße und die Marschallbrücke“,

 

und damit insbesondere auch das Brandenburger Tor.

§ 5 Abs. 1 BefBezG wird neugefasst:

 

„(1) Ausnahmen von dem Verbot öffentlicher Versammlungen unter freiem Himmel und von Aufzügen innerhalb der befriedeten Bezirke kann das Bundesministerium des Innern jeweils im Einvernehmen mit dem Präsidenten der in den §§ 2 bis 4 genannten Verfassungsorgane auf Antrag zulassen.“

 

§ 6 BefBezG a.F. wird gestrichen, die §§ 7 bis 9 in §§ 6 bis 8 umnummeriert.

Die Änderungen werden im Bundesgesetzblatt ordnungsgemäß verkündet und treten zum 1. April (VersG) bzw. 1. Dezember 2005 (BefBezG) in Kraft.

Die Regierung des Bundeslandes Bückeburg hält die Regelungen für unvereinbar mit dem Grundgesetz und ruft nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG das Bundesverfassungsgericht an. Sie sind aufgefordert, als Prozessbevollmächtigte von Bückeburg und der äußerungs­berechtigten Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung am 27. und 28. Oktober 2005 zu den verfassungsrechtlichen Fragen des Änderungsgesetzes Stellung zu nehmen.